Wow, what a ride… Charlie, die filmeliebende Protagonistin dieses Romans, ist -buchstäblich- psychotisch: Traumatische Situationen schlagen sich bei ihr in Halluzinationen nieder, die sie als „Filme erleben“ bezeichnet und die dabei derart realistisch sind, dass sie hernach oft nicht sagen kann, was tatsächlich und was nur in ihrem Kopf stattgefunden hat. Der Roman erzählt nun von einer Nacht, die sich kurz nach dem Mord an Charlies bester Freundin und Mitbewohnerin Maddy ereignet: Charlie gilt als die letzte Zeugin, die Maddy vor deren Tod noch gesehen hat – und zwar in Begleitung des mutmaßlichen Täters, an den Charlie sich nur als „dunklen Schemen“ erinnern kann. Von Schuldgefühlen geplagt; nicht nur, dass sie den Täter nicht beschreiben kann, sondern auch, dass Maddy und sie sich während ihrer letzten Unterhaltung gestritten hatten; will Charlie erneut Zuflucht bei ihrer Großmutter suchen, die sich dereinst schon nach dem Unfalltod ihrer Eltern rührend um Charlie gekümmert hatte. Da Charlie seit jenem Unfall selbst nicht mehr Auto fährt, ist sie auf eine Mitfahrgelegenheit angewiesen und da kommt ihr Josh grade recht, den sie vorm Schwarzen Brett kennenlernt, als sie ihre Annonce grade anpinnt…
Das sind die Informationen, die man als Leserin gleich eingangs als gegeben präsentiert bekommt und die als unverrückbarer Rahmen im Hintergrund erscheinen. Aber kaum haben Josh und Charlie sich auf den Weg gemacht, geht die Geschichte so richtig los: Charlie beginnt zu zweifeln, ob ihr überhastetes Verlassen des Campus eine gute Entscheidung war, ob es nicht naiv war, mit einem Fremden diese lange Fahrt, teils quer durch eine menschenleere Ödnis, anzutreten, während der Campus-Killer nun schon zum dritten Mal in vier Jahren zugeschlagen hat und immer noch nicht identifiziert ist, ob es nicht etwas zu sehr Zufall war, dass Josh exakt zum selben Zeitpunkt, während eines laufenden Semesters, eine Mitfahrgelegenheit anzubieten hatte, als sie eine in dieselbe Richtung suchte, in die er fahren wollte… und dann entpuppt Josh sich nicht nur als (schlechter) Lügner, sondern sagt dabei auch noch Dinge, die es mehr als wahrscheinlich machen, dass er der Campus-Killer sein muss. Aaaaaaaaaber: Völlig unsicher und nun auch verängstigt, beginnt Charlie wieder, „Filme zu erleben“ und so wie sie ständig verwirrt aus diesen hochschreckt, weiß man als Leserin eben auch nicht, welcher Teil der Handlung sich nun tatsächlich so ereignet hat oder was davon, ab und bis zu welchem, Zeitpunkt Charlie sich nur eingebildet hat. Hat Josh z.B. überhaupt so offensichtlich gelogen, halbe Geständnisse abgelegt etc., oder verfällt Charlie einfach nur in einen Wahn, so dass in Wirklichkeit eher Josh durch Charlie gefährdet ist als er eine Bedrohung für sie darstellt?
Die Handlung konzentriert sich sehr auf Charlie, aber als Leser*in weiß man auch immer etwas mehr von den paar Nebenfiguren, wobei die Beschreibungen hier häufig vage bleiben und es da Überraschungen gibt. Insgesamt gibt es auch kaum eine Handvoll Personen in diesem Roman, die wirklich präsent sind, aber diese kurzen „Abschweifungen“ von Charlie weg zu einer anderen Figur hin sind teils ganz hilfreich, um bestimmte Geschehen besser einordnen, ob nun real oder eingebildet, einordnen zu können ohne dabei aber unbedingt Sinn zu ergeben: Was mich z.B. sehr schnell verwirrt hat, war der der Fakt, dass einerseits zwar sehr viel dafür sprach, dass Josh wirklich der Campus-Killer war, der nun auch noch Charlie umbringen wollte, und andererseits aber kein Problem damit hatte, bei einigen Zwischenstopps ganz klar in Begleitung Charlies gesehen zu werden: Wollte er nach diesem Mord unbedingt identifiziert werden können, plante er nach seinem letzten Mord Suizid zu begehen, dass es ihm einfach egal war, post mortem überführt zu werden…? Oder war er trotz aller Indizien eben doch nicht der Killer?
Ich fand diesen Thriller wahnsinnig spannend, eben vor Allem aufgrund von Charlies Halluzinationen, die die Handlung undurchsichtiger sein ließen, und fragte mich auch alsbald, ob die Auflösung nicht womöglich „eine einzige psychotische Episode“ lauten würde und diese komplette Autofahrt durch die Nacht eventuell nie stattgefunden hätte. Auch die wenigen Längen des Romans habe ich kaum als solche empfunden, da es eben fraglich war, ob diese nun nicht lediglich halluziniert worden waren; das war meinem Empfinden nach schon sehr geschickt vom Autor gespielt.
Dass die Geschichte Anfang der 90er spielt, ist übrigens nur insofern von Relevanz, dass man sich nicht fragen musst, wieso an der einen oder anderen Stelle nicht einfach zum Handy gegriffen wird, aber sie könnte sich vermutlich auch ohne großen Aufwand in die heutige Zeit verlegen lassen; man sollte also definitiv nicht allzuviel (popkulturellen) Zeitkolorit erwarten.
Für mich war dieser Roman nun schon ein kleines Highlight, sehr empfehlenswert vor Allem für Leute, die sehr gerne Psychothriller mit eindeutigem Psycho(logie)Anteil lesen.