„Die Leute fragen mich oft, warum ich so lange gewartet habe meine Geschichte zu erzählen. Das ist eine einfache Frage, aber die Antwort ist es nicht.“
Direkt nach den Schrecken des Krieges, des Holocausts wollte niemand wissen, was genau geschehen war. Die Leute hatten ihre eigenen Probleme, ihre eigenen Familienmitglieder und Freunde verloren…
Doch kein Holocaust-Überlebender konnte vergessen… Wie hätte man das auch können…
Sam wusste immer, dass er seine Geschichte irgendwann erzählen würde!
„Sam Pivnik is nobody: just one of millions.
But the story of Sam Pivnik – I hope that will live on.“
- https://www.sampivnik.org/
Es ist mir noch nie so schwer gefallen einen Artikel gegen das Vergessen zu schreiben... Das mag nicht nur an der Emotionalität liegen, die in jedem von Sams Worten steckt, sondern vor allem an der Masse an Dingen, die Sam erlebt hat...
Er war nicht nur in einem oder zwei Lagern... Er hat nicht nur eine oder zwei Grausamkeiten miterlebt...
Sam Pivnik war mittendrin...
Er war im Ghetto... in Auschwitz... in Fürstengrube... in Mauthausen... in Dora-Mittelbau... in Turmalin (Regenstein)... nach Magdeburg... über Hamburg nach Lübeck... um dort beinahe an Bord der Cap Arcona zu sterben...
Um Sams Leben gerecht zu werden, braucht es den Umfang des Buches... dieser Artikel kann euch nur einen Teil erzählen... Um Sam vollends folgen zu können, müsst ihr mir in sein Buch folgen...
Sam Pivnik, wurde am 01.September 1926 als Szlamek Pivnik in der südwestlichen polnischen Stadt
Bedzin geboren. Als die deutsche Wehrmacht in Polen einmarschierte, wurde bald klar, dass auch Bedzin zu einer „judenreinen“ Stadt werden sollte.
Zunächst musste die Familie Pivnik im März 1943 ins gerade neu geschaffene Ghetto auf den Kamionka Berg umziehen, doch lange sollten sie auch hier nicht wohnen dürfen…
Sams Großmutter war ihnen zu dieser Zeit schon entrissen worden… Dia alte Dame, Ruchla-Lea Pivnik, war bereits am 12.August 1942 mit vielen anderen alten Leuten von den Deutschen „aussortiert“ worden… Damals wusste noch niemand, dass dies erst der Beginn von vielen folgenden Selektionen sein würde…
„Sie war zweiundachtzig Jahre alt und alles andere als gesund, gebrechlich und fast blind. Mein Leben lang hatte ich sie gekannt und geliebt: ihr freundliches Zwinkern, ihre knochigen Hände, ihre Gute-Nacht-Geschichte. Sie war ein Teil meines Lebens, und jetzt wurde sie uns entrissen. […]
Dann wurde die gebrechliche alte Dame weggeführt zu einer Gruppe anderer alter Menschen aus der Stadt, die vor Schock und Angst zitterten. Ich habe sie nie wiedergesehen.“
- Seite 70
Als das Ghetto geräumt wurde, versteckte sich die Familie zunächst auf dem Dachboden, doch niemand hatte damit gerechnet, sich mehrere Tage vor den Gewehren der SS verstecken zu müssen. Hungrig und durstig verließ die Familie am 06.August 1943 ihr Versteck und wurde zusammen mit den restlichen Juden der Stadt mit Zügen nach Auschwitz transportiert…
Eine Stunde nachdem sie den Zug bestiegen, waren sie auf der Rampe von Auschwitz angekommen… Dort begegnete Sam dem Todesengel zum ersten Mal… Josef Mengele sollte noch öfter Sams Weg kreuzen und ihn einmal sogar entgegen aller Wahrscheinlichkeit am Leben lassen.
Und dort sah Sam seine Eltern und fünf seiner sechs Geschwister zum letzten Mal.
Seine Mutter rettete ihm das Leben, indem sie ihn in die Reihe der gesunden Männer schob.
Sam war 16 Jahre alt, als sein Leben erst einmal stehen bleiben sollte…
„ „Schon im Himmel“ oder „durch den Schornstein“: Ich wusste schon lange, dass so das Schicksal meiner nächsten Angehörigen ausgesehen hatte. Lejbus Pivnik, der Schneider, der Gott und seine Traditionen so ernst nahm. Fajgla Pivnik, die Mutter, die mich geboren hat, die mir das Leben schenkte und rettete. Hendla Pivnik mit ihren Träumen von Eretz Yisrael und dem Heiligen Land. Und die Kinder: Majer, vierzehn Jahre alt, Chana, dreizehn Jahre, der achtjährige Wolf und der kleine, erst sechsjährige Josek. Sie waren Menschen, die zu mir gehörten, aber sie wurden zu Zahlen in einer Statistik. Ihre Namen tauchen nicht einmal in den Listen auf.“
- Seite 245
In den folgenden zwei Jahren sollte er beinahe vierzehn Mal sterben…!
Auschwitz sollte nur ein Zwischenstopp bis zu seiner Befreiung nahe von Lübeck sein.
Von Mengele mal abgesehen sollte Sam vor allem zwei Männer im Gedächtnis behalten... und in seinen Alpträumen...
Karel Kurpanik, ein Unterscharführer der SS... ein Sadist... wer seinen Schlagstock ins Gesicht bekam, der stand nicht wieder auf...
Max Schmidt, Lagerführer von Fürstengrube... seine Spaziergänge durchs Lager mit Hund und Reitgerte waren gefürchtet...
Sam berichtet von Diversen Grausamkeiten... von an Fleischerhaken aufgehängten Männern... von Mauthausens berüchtigter Todesstiege... und von den Gefühlen der Lagerinsassen untereinander... da war keine Freundschaft oder Kameradschaft... es ging ums eigene Überleben...
,,Ignoriere ihn, denn er stirbt sowieso, und wenn du ihm hilfst, dann stirbst du auch. Das war das Gesetzt von Auschwitz-Birkenau. Unausgesprochen und universal."
- Seite 109
Und auch wenn das Buch "Der letzte Überlebende" heißt, und Sam auch lange dachte, dass er dies sei, so fand er doch nach dem Krieg seinen großen Bruder Nathan wieder...
Die beiden immigrierten nach England, doch Sams Reise fand dort noch nicht sein Ende...
Sein weiterer Weg führte ihn nach Palästina... doch auch dort blieb er nicht.
Ich möchte an dieser Stelle enden...
Ich bin sehr froh darüber, dass Sam und seine Erfahrungen ein Teil meiner Reise gegen das Vergessen sind... und sehr froh, diesen schweren, emotionalen Zwischenstopp eingelegt zu haben...
Sam lebt heute in einem Seniorenheim in London.