Sperrige Charaktere in einer sperrigen Zeit
Das viktorianische Zeitalter - lang und schwerfällig - war keine einfache Epoche. Alles andere als leichtfüßig und charmant - sowieso nicht gerade britische Kerneigenschaften - kam es daher und musste ...
Das viktorianische Zeitalter - lang und schwerfällig - war keine einfache Epoche. Alles andere als leichtfüßig und charmant - sowieso nicht gerade britische Kerneigenschaften - kam es daher und musste doch mit einigen Änderungen wie Industrialisierung, erste Emanzipationsversuche von Frauen, das Aufeinandertreffen von Wissenschaft und Religion und natürlich auch diversen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mängeln und Problemen.
Passend dazu wimmelt es in diesem Roman von sperrigen Charakteren, die sich quasi die Klinke in die Hand geben. Allen voran Cora, die Hauptfigur, eine starke Frau. In jeder Hinsicht, wobei sie es in mancher erst geworden ist. Denn sie hat ihren Mann verloren - kein Grund zur Trauer, im Gegenteil. Der - viel älter als seine noch als Teenager geheiratete Frau - hat sie nämlich verschiedentlich gequält und mißhandelt. Der Leser erhält hier nur punktuelle Einblicke, aber die reichen völlig!
Cora also lässt es sich nicht nehmen, zumindest hinter verschlossenen Türen zu frohlocken und ein neues Leben anzuvisieren - Geld ist zumindest kein Problem. Naturwissenschaftlich interessiert zieht es sie mit Sohn Francis und der ihr freundschaftlich verbundenen Haushaltangestellten Martha nach Aldwinter an der Küste von Essex, wo bald ein Gerücht umgeht, die sagenhafte Schlange von Essex sei wieder aufgetaucht. Und nicht nur dem muss sie sich stellen, sondern auch den Verlockungen des anderen Geschlechts. Ausgerechnet der Geistliche Will, ein verheirateter Mann mit komplett andern Wertvorstellungen kommt ihr emotional in die Quere.
Doch es sind nicht nur ihre Geschicke, die hier dargestellt werden, sondern auch die der Menschen um sie herum. Eindrucksvoll sind die Charaktere gezeichnet, jeder einzelne ist ein "Typ", leicht fällt es dem Leser, sich diese Gestalten bildlich vorzustellen.
Aber ach! Die Geschichte selbst ist gelegentlich ein wenig wirr, wenig logisch und ein bisschen unausgegoren, da nützen auch die kraftvollsten Charaktere nichts mehr. Ich empfand das Ende als recht rund, das Meiste wurde dann doch zusammengezurrt und auf den Punkt gebracht - wohlgemerkt in sehr angenehmen Schreibstil und einer ebensolche Übersetzung - aber einiges verlief doch im Sande. Dennoch habe ich dieses Buch genossen, aber ich warne - wer sich nicht wie ich von den Charakteren um den kleinen Finger wickeln lässt, der könnte enttäuscht sein. Und zwar nicht zu knapp!