Ein Pakt gegen das Vergessen
„Nach langem Nachdenken über die sowjetischen Lager als ein großes Experiment, eine Art Laboratorium, eine gewaltige mathematische Gleichung, deren Ergebnis der neue Sowjetmensch sein sollte, ...
„Nach langem Nachdenken über die sowjetischen Lager als ein großes Experiment, eine Art Laboratorium, eine gewaltige mathematische Gleichung, deren Ergebnis der neue Sowjetmensch sein sollte, kam sie zu dem Schluss, dass das alles Humbug war.“
Inhalt
Tatjana Alexejewna ist über 90 Jahre alt, sie leidet an Alzheimer und beschließt ihrem neuen Nachbarn Alexander, den sie im Treppenhaus kennenlernt ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen. Nicht etwa, weil dieser besonders interessiert wirkt, sondern nur auf Grund der Tatsache, dass sie irgendjemanden finden muss, um ihr Leben Revue passieren zu lassen, solange sie sich noch an das erinnert, was ihr widerfahren ist. Tatjana gelingt es den jungen Mann mit ihrer Geschichte zu infizieren, so dass er sich tatsächlich bald für die Vergangenheit der betagten Dame interessiert und ihr gebannt zuhört. Und auch für ihn ergibt sich die Chance, sein eigenes Schicksal und das seiner Familie zu erläutern. Sie hören einander zu und schließen eine unerwartete Freundschaft und einen Pakt über das Vergessen. Während Tatjana das sozialistische System auseinandernimmt und ihr Erfahrungen mit Angst, Gewalt und Manipulation in sowjetischen Lagern offenbart, erkennt Alexander, dass er nicht allein ist mit seinem Leid über verlorene Menschen, die niemand mehr zurückbringt.
Meinung
Der weißrussische Autor Sasha Filipenko hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesem kurzen, eher berichtenden Roman über das sozialistische Regime unter der Herrschaft von Stalin, sehr genau und akribisch dessen Verfehlungen aufzuzeichnen und den Krieg gegen das eigene Volk, lange nach dem 2. Weltkrieg von der Betroffenenperspektive aufzurollen. Denn Tatjanas Schicksal ist nicht das einer einzelnen Frau, die in unglückliche Umstände geraten ist, sondern Strafe für ein ganzes Volk, welches es wagte, die Stimme zu erheben oder die Handlungen nicht gesellschaftskonform abzuwickeln. Wer sich nicht anpassen wollte, wurde zum Feind und musste bestraft werden.
Trotz des wahren historischen Hintergrunds, der durch intensive Recherchen und viele Originaldokumente belegt wird, ist dies kein langweiliger Roman über ein politisches System, sondern vielmehr die Lebensgeschichte zweier Menschen und wirkt deshalb viel greifbarer und emotionaler als ein reiner Bericht.
Am meisten haben mich die vielen Gedankengänge inspiriert, die eher in Nebensätzen formuliert werden und mit der Haupthandlung nur indirekt in Verbindung stehen. Z.B. die Tatsache, dass sich Tatjana als Atheistin einen Gott erdacht hat, an den sie nicht im positiven Sinne glaubt, aber seine imaginäre Existenz hilft ihr, ihre Wut und den Überlebenswillen aufrecht zu erhalten, um dermaleinst mit ihm abzurechnen. Oder ihr Umgang mit der vermeintlichen eigenen Schuld, nachdem sie aus einem offiziellen Dokument den Namen des eigenen Mannes gestrichen hat und dafür den Namen eines Unbekannten gleich zweimal aufschrieb. Ihre Suche nach ebenjenem, der womöglich durch ihren Fingerschlag ein desaströses Leben führen musste.
Fasziniert war ich auch von der Fülle an Informationen, die ich für so ein kleines Buch, welches zudem noch eine ganz andere Geschichte erzählt, niemals erwartet hätte. Viele Worte, viele Grundsätze und über dem eine ganz konkrete, greifbare Frage nach Schuld oder Unschuld, Schicksal oder Lebensaufgabe, Kapitulation oder Kampf.
Fazit
Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen Roman, der die große Weltgeschichte auf ein Einzelschicksal herunterbricht und dennoch Aussagekraft und Allgemeingültigkeit besitzt. Man kann auch ohne entsprechendes Hintergrundwissen lesen und bekommt sehr viel „echte“, erlebte Geschichte geboten. Darüber hinaus steht auch das Menschsein im Mittelpunkt, die Möglichkeit auch Jahre später aufzuarbeiten, was die Seele belastet und wenn schon keine greifbare Reaktion in der Vergangenheit erreichbar war, so bleibt dennoch etwas für die Zukunft und spätere Generationen zurück. Ich bin sehr froh, dieses Buch gelesen zu haben, es trifft genau meinen Lesegeschmack und bekommt ein Ehrenplätzchen im Regal. Auf weitere Bücher des Autors bin ich gespannt.