Wenn ich keine Entscheidungen treffe, entscheidet irgendwann das Leben für mich
Andrea, genannt "Andi", ist Mitte 30, und orientierungslos in ihrem Leben. Von der eigenen Mutter wurde sie verlassen, als sie 10 Jahre alt war, und auch zum Vater hat sie kein gutes Verhältnis. Doch es ...
Andrea, genannt "Andi", ist Mitte 30, und orientierungslos in ihrem Leben. Von der eigenen Mutter wurde sie verlassen, als sie 10 Jahre alt war, und auch zum Vater hat sie kein gutes Verhältnis. Doch es gibt auch stabilisierende Faktoren in ihrem Leben: die langjährige Beziehung zu Georg, mit dem sie schon seit ihrer Teenagerzeit zusammen ist, auch wenn sie sich bisher nicht dazu entschließen hat können, weitere gemeinsame Schritte zu gehen, zusammen zu ziehen, zu heiraten oder sich für ein Kind zu entscheiden. Und sie arbeitet in einer Kreativagentur, eine Festanstellung, die ihr so mittelmäßig zu gefallen scheint.
In sich drin träumt Andi von all den alternativen Lebensrealitäten, die möglich wären: man könnte doch ganz was anderes machen, mal in Madrid leben, am Meer oder in der Großstadt, durch die Welt reisen, mal so, mal so. Tatsächlich lebt sie nichts davon, denn sie hat sich für einen Partner entschieden, der konservativ ist und die Routine liebt, und lebt nun schon seit Jahrzehnten an seiner Seite. Georg liebt das Gewohnte und Traditionelle, auch im Urlaub, und er ist eindeutig der stärkere Part in dieser Beziehung. Und Andi unternimmt keinerlei Bemühungen, irgendwelche ihrer Träume zu verwirklichen.
So beginnt das Buch schon mit dem jährlichen Urlaub, den das Paar im immer gleichen Hotel in Jesolo verbringt, wo Georg die immer gleichen Speisen zum Frühstück wählt und wenig Neues ausprobieren möchte. Für die Zukunft hat Georg auch eine klare Vorstellung: zusammenziehen, am besten im oberen Stock des Elternhauses, den man dann noch weiter ausbauen könnte, und gemeinsam eine Familie gründen. Das spricht Georg auch immer wieder an, nur Andi möchte das nicht, sich träumt von einem freieren, flexibleren Leben und möchte sich nicht festlegen, unternimmt aber auch keine konkreten Schritte in Richtungs ihres Wunschlebens und hält Georg hin, trennt sich aber auch nicht von ihm, obwohl klar ist, wie er ist und was er sich vom Leben wünscht und dass das mit ihren Vorstellungen eigentlich überhaupt nicht zusammenpasst.
Dabei werden die beiden immer älter - Andi ist mittlerweile 35 - und Georg immer unglücklicher damit, dass er seine Ziele mit ihr nicht verwirklichen kann und auch nicht weiß, ob und wann das noch möglich sein wird, sodass es sogar zu einer kurzfristigen Distanzierung zwischen den beiden kommt.
Tja, und dann stellt sich heraus, Andi ist im alljährlichen Jesolo-Urlaub offenbar schwanger geworden. Auch hier verhält sie sich so, wie sie sich immer verhält in ihrem Leben: sie trifft erst mal lange überhaupt keine Entscheidung und redet mit niemandem darüber, nicht einmal mit Georg. Die Schwangerschaft ist schon recht weit fortgeschritten, als sie ihm davon erzählt, und an ihrem Arbeitsplatz schweigt sie das Thema sowieso so lange tot, bis der Babybauch so sichtbar ist, dass sie schon darauf angesprochen wird. In Bezug auf das Ungeborene scheint sie nicht viele mütterliche Gefühle zu entwickeln und verhält sich ausgesprochen verantwortungslos, etwa, indem sie wiederholt größere Mengen an Alkohol trinkt.
Gleichzeitig lässt sie sich aber schlussendlich in ein Leben treiben, das sie so nicht wollte. Sie willigt ein, mit Georg ins Haus seiner Eltern zu ziehen, dort das obere Geschoss aufwendig renovieren zu lassen, aufzustocken und dafür einen Kredit im mittleren 6-stelligen Bereich aufzunehmen. Georg und seine Eltern übernehmen eine dominante Rolle bei der Renovierung und Wohnungseinrichtung, und abgesehen von vereinzelten kleinen Akten der Rebellion - Andi setzt sich bei der Wahl des Sofas durch - lässt sie auch das mit sich geschehen.
Wir begleiten Andi, Georg und deren Umfeld durch die Schwangerschaft und es ist schon hier ersichtlich, wie das Ganze weitergehen wird: Andi wird sich in ihrem selbsterwählten Unglück und ihrer Opferrolle suhlen, wahrscheinlich eine ähnlich wenig ambitionierte Mutter sein wie ihre eigene und die Schuld an all dem "der Gesellschaft" und "deren Erwartungen an Mutterschaft" zuschieben. Dabei - man liest es sicher heraus - hat ihr Unglück in meinen Augen viel mehr mit ihrer eigenen passiven Haltung und Verweigerung des Erwachsen-Werdens und der Verantwortungsübernahme für das eigene Leben zu tun, als mit der Gesellschaft. Schließlich hat niemand sie gezwungen, genau diesen Partner zu wählen und so lange an seiner Seite zu bleiben, und dann sich noch mehr ins von ihr abgelehnte konservative Leben hineinfallen zu lassen, aus Passivität und Feigheit.
Andi ist also keine sympathische Person, aber das muss sie auch nicht sein. Das Buch an sich finde ich hervorragend geschrieben, denn es ist eine ausgezeichnete Charakter- und Milieustudie und als solche spannend und authentisch zu lesen: Frauen mit einer Haltung ähnlich wie Andi gibt es viele, und damit ist es auch eine sehr gute Darstellung der Konsequenzen des Sich-Treiben-Lassens und Nicht-Erwachsen-Werden-Wollens, das in gewissen Kreisen meiner eigenen Millenial-Generation so verbreitet ist - Leseempfehlung!