Meist guter Unterhaltungsroman. Text meistens top, Lektorat meistens Flop
wie das? Nun, die Geschichte an sich, der „Plot“ ist stimmig, die Figuren sind gut gezeichnet, es gibt Entwicklungen, sie sind nicht eindimensional. Es ist immer wieder einmal gefühlvoll (nicht zu oft, nicht zu viel), aber einige Male dann doch sehr emotional (naja – nicht so meins; nie). Vergleichbar vielleicht mit „Die Nachtigall“, Kristin Hannah.
Text: Ich habe das Hörbuch gehört, vorgetragen von Beate Rysopp, die ich als sehr angenehm empfand und die dafür sorgt, dass ich gut mitbekomme, welcher Person ich gerade folge. Allerdings gibt es zwischen jedem der 206 Abschnitte auf den 2 mp3-CD sehr deutliche Pausen – findet ein Wechsel zwischen den Zeitebenen statt (damals und heute alternieren im Handlungsfortschritt), sind die hilfreich zur Unterscheidung, jedoch nicht auch bei einer Fortsetzung der Handlung. Dadurch war es für mich zu Beginn schwierig, die Zeiten zuzuordnen und die Charaktere. Überhaupt, die Charaktere: es wäre nett, wenn bei fast allen Hörbüchern, die ich kenne, eine grobe „Personalliste“ beiläge; und ja, ich weiß, das kann auch spoilern (im Krimi würde ja z.B. der Mörder nicht fehlen). Hier würde reichen:
die Eltern: Johannes und Elisabeth Groen
Elisabeths Mutter Käthe
die Nachbarin Hertha
Elisabeths Freundin Eva
die Kinder: Charlotte, Marlene und Theresa, sowie Theresas Tochter Anna
Tom – Miterbe von Theresa
Anton
Wieland – Mitschüler und Freund von Marlene
Die Erzählung beginnt 1936 und endet in der Jetztzeit gegen 2012, umfasst die Zeit des Nationalsozialismus, die DDR und die Zeit nach der Wende, mit Handlungsorten hauptsächlich Berlin (Ost) und Rostock. Anhand der Familie Groen und ihres Umfeldes erzählt Autorin Baumheier über die deutsche Geschichte; sie macht plausibel, woraus gerade zu Beginn viele Hoffnung schöpften bei der Staatsgründung, den Chancen auch für nicht Privilegierte, dem Anspruch auf ein Leben in Gleichheit und ohne Krieg. Parallel dazu wird durch den Strang im Heute klar, dass es mindestens ein Geheimnis gibt in der Familie.
Tochter Theresa, geschieden und Mutter einer studierenden Tochter, erhält ein Testament, das alles durcheinanderwirbelt. Sie und ein Tom, von dem sie nie vorher gehört hat, haben von Tochter Marlene geerbt. Dabei war doch Marlene schon länger tot – und wer ist Tom? Auch die inzwischen demente Elisabeth trägt eher zu weiterer Verwirrung bei: „Anton hat sie gerettet“. Anton? Charlotte, Anna und Theresa machen sich auf die Suche.
Die Familie Groen ist „linientreu“, Vater Johannes arbeitet im Ministerium für Staatssicherheit, bis auf die Anfänge lebt die Familie in Berlin. Marlene ist das Kind, das aus der Reihe tanzt. Damit zeigt sich eine kleine Schwäche des Buches, denn über das „normale“ Leben in der DDR, wie es der entsprechende Teil meiner Familie erlebt hat, erfährt man wenig. Von Johannes‘ Seite gab es weniger Versorgungsprobleme als für „Normalos“, die Übereinstimmung mit der Ausrichtung war gegeben, die meist verhassten „Russen“ (eigentlich ja Sowjets) waren in der Person von Kolja väterliche Freunde. Und die aufmüpfige Marlene ging weiter als die meisten – es wurde ja eher über die Versorgungslage gemeckert, die kleine Flucht statt der großen „echten“ in Erwägung gezogen. Mir fehlt, ehrlich gesagt, phasenweise etwas mehr DDR in dem Buch, und ich selbst bin „Wessi“. Mir fehlt der Fahnenappell, die Schulessen, Horte, Partnerbetriebe der Schulen, Demo zum 1. Mai, Feiern im Arbeitskollektiv, Wehrlager, Ferienstätten der Betriebe – irgendetwas davon; alles, was gleichzeitig „im Westen“ nicht von Bedeutung war (es gibt nur Panzer malen, Thälmann-Pioniere, Micky-Maus-Verbot). Versorgungsnot wird thematisiert nur über Elisabeths Freundin Eva, das ist angesichts der anderen Situation der Familie nachvollziehbar, aber genau wie die Situation auf dem Wohnungsmarkt wiederum eher typisch für die meisten. Einzig Charlotte durchläuft merkbar zumindest einige der Stationen des üblichen Lebens. Dafür wird aufgezählt, was man aß (ohne das Ost-Jägerschnitzel zu erklären, das Theresa mit ihrem Patienten isst). Das alles ist jedoch nur ein persönliches Befinden, es tut der weitgehenden Nachvollziehbarkeit des Buches keinen Abbruch.
Ich lese keine Liebesromane, mag keine Rührseligkeit, und weitestgehend kommt der Text bei mir „durch“. Das Ende ist mir etwas zu dick aufgetragen, kleinere Stellen zwischendurch (vor allem bezüglich Wieland – dem begegnet man ZWEI MAL zufällig??). Sehr eindringlich und gut dargestellt fand ich hingegen die Szenen im Gefängnis, die Demenz-Anfänge, die psychischen Probleme, die Änderungen bei Johannes. Bis auf die Hochzeit hatte ich alle „Personenstandsentwicklungen“ dank des (grummel) Klappentextes geahnt bei Anna, Theresa, Tom, fand das Buch aber dennoch spannend, da ich das „Warum“ erfahren wollte. Ein „Leitmotiv“ im Roman störte mich sehr: ALLE Probleme hätten geringer sein können, wenn man miteinander geredet hätte – und vor allem, wenn man nachgefragt hätte. Was immer schief lief, es wurde angenommen, alle anderen hätten die jeweilige Person verraten, zuletzt so Theresa. Das lief auch wirklich permanent wiederholt immer gleich ab: Handlung, teils mit besten Absichten. Es wird etwas vertuscht. Schlechtes Gewissen bei denen, die es vertuschen. Weitermachen. Wenn es herauskommt, Ablehnung aller durch den, dem man etwas nicht erzählt hatte. Keiner fragt irgendwie nach, geht offensiv damit um. Das ist nicht logisch, Menschen sind verschiedenen: es müsste schlicht verschiedene Reaktionen geben.
Schlecht hingegen einiges, was ein Lektorat hätte glattziehen müssen (selbst Geschriebenes ist IMMER schwieriger zu korrigieren, das schmälert die Leistung der Autorin nicht):
Wiederholungen.
Da bekommt z.B. erst der Vater taube Hände beim Anblick von Marlene, später die Mutter. Das ist kein gängiges Bild für überwältigte Emotionen, aber selbst gängigeres Herzrasen oder ähnliches sollten nicht beide GLEICH bekommen.
der Text, den Johannes verfasst hat, wird zweimal hintereinander vorgelesen – in kurzem Abstand, wozu?
Logiklücken
Johannes und Anton schreiben einander. Die DDR hat großen Aufwand ins „Mitlesen“ gesteckt, gerade bei Briefen von/nach der Bundesrepublik UND Kolja hatte ein Augenmerk auf Johannes. Und die Briefe gingen durch? Warum kein Bote stattdessen, man muss hier nicht den gesamten Inhalt ändern.
Anton unterschreibt an Johannes mit Doktortitel – wie logisch ist das in privaten Briefen, wenn man nicht dem anderen irgendetwas damit sagen will? Ins Hotel in Dresden checkt er ein ohne Titel
Anton gibt seiner Enkelin Schlafmittel, die sie einen Tag außer Gefecht setzen, also fast Narkose. Er ist Arzt, aber nicht ihr Arzt – es könnte zu Unverträglichkeiten kommen bis hin zum Tod. Das tut niemand, von der rechtlichen Komponente ganz abgesehen
(etwas verschleiert formuliert, da sonst Spoiler) Das wirkliche Alter des Babys soll vertuscht werden gegenüber Charlotte, damit sie keinen Verdacht schöpft – aber später hat das erwachsene Kind Geburtstag und Alter genau so, wie es korrekt ist. Wie logisch ist das?
die späte Hochzeit – eigentlich entdeckt man so etwas bei der Beerdigung, Totenschein, Stammbuch, Behörden? Von vorangehender Pflege einmal ganz abgesehen, da melden sich Behörden ebenfalls
der Lungenkrebs am Ende. Chemos/Bestrahlungen hatten in meinem Umfeld immer so eine Dauer von ½ Jahr oder einem Jahr – Ausnahme: man hat das von Anfang an gestreckt, weil ohnehin keine Hoffnung auf Heilung bestand, nur auf Verzögerung, oder es kam zu Unverträglichkeiten. Von einem Rückfall spricht man, wenn es nach der Behandlung erst einmal Stillstand oder Heilung gab. Hier gibt es die Diagnose und 4 Monate später einen Rückfall? Verschlimmerung wäre hier passender. Und: Lungenkrebspatienten ersticken meistens (wenn nicht etwas anderes vorher versagt). Und hier sitzt der Patient aufrecht am Kaffeetisch kurz vor Ende?
Das ist das Debüt von Anja Baumheier, ich möchte fast keinen der Kritikpunkte ihr anlasten, bis auf die Wiederholungen im Verhaltensschema und die Zufälle bei Wieland: bei so etwas hat ein Lektor etwas zu merken. Der Stil ist mitreißend und der Vortrag von Frau Rysopp hat dafür gesorgt, dass ich die Mängel fast nicht bemerkt hätte, wäre es nicht so gehäuft gewesen.
Geschichte an sich 4 ½ Sterne.
Gestaltung des Audiobuchs, Audiobuch generell, Lesung: 4 Sterne (Lesung dabei besser)
Die vielen Fehler, die Wiederholungen, ein paar Klischees… 2 ½ Sterne.
Also gesamt 3 ½ Sterne.
Ich mache jetzt „Welpenschutz“ für ein sonst tolles Debüt, weil ich nur 3 Sterne echt schade fände, das hat die Autorin nicht verdient.