Ein Jahreshighlight1
Das Set-Up des Buches ist irgendwie der urbane Stadtleben-Traum meiner Teenagerzeit, die Schwestern Winnie und Sasha teilen sich ein Apartment in Brooklyn; Sasha studiert, Winnie versucht eine App zu programmieren ...
Das Set-Up des Buches ist irgendwie der urbane Stadtleben-Traum meiner Teenagerzeit, die Schwestern Winnie und Sasha teilen sich ein Apartment in Brooklyn; Sasha studiert, Winnie versucht eine App zu programmieren und arbeitet in einem Coffee-Shop. Ihr Leben wirkt ruhig, geordnet, manchmal etwas chaotisch, aber im Großen und Ganzen so wie ich mir immer das Erwachsen-werden in einer Stadt wie New York vorgestellt habe.
Dazu kommt allerdings Sashas Krankengeschichte, die viel von Winnies Kindheit bestimmt hat und auch nach ihrer Genesung schwingt immer eine leise Panik in den Figuren mit, wenn Sasha auch nur eine Erkältung hat. Der Rattenschwanz dieser Erkrankung und wie sie die Kindheit der beiden Schwestern prägte, wird in diesem ersten Band angerissen und wie ich finde, auch sehr gut dargestellt, dennoch kann ich mir vorstellen, dass da noch einiges mehr hintersteckt, als bisher gezeigt wurde.
MEIN HERZ HÄLT DIESE FIGUREN NICHT AUS
Das Buch wird zwar als Romance vermarktet, aber Anne Pätzolds typische Slowburn-Beziehungen bestimmen auch dieses Buch und so darf man erst einmal Winnie & Jo dabei begleiten und wie sie sich anfreunden, ehe da mehr ins Spiel kommt. Allerdings ist es keineswegs langweilig bis dahin, dann meiner Meinung nach behandelt dieses Buch sehr viel mehr als „nur“ eine Liebesgeschichte. Dass die Autorin komplizierte, vielschichtige Familienkonstrukte schreiben kann, habe ich in When We Dream schon gemerkt und dieses Buch steht den Schwestern aus Chicago in Nichts nach. Winnie und ihre jüngere Schwester Sasha haben mir das Herz gebrochen, weil ihre Beziehung so echt, verworren und schmerzhaft ist, gleichzeitig würden sie füreinander ihre Hand ins Feuer legen.
Da ist Winnie, die in erster Linie Caretaker anstatt Schwester ist, eine zweite Mum für Sasha, weil man ihr das beigebracht hat. Winnie, die sich selbst immer hintenanstellt für Sasha, beschützerisch und aufopferungsvoll ist und sich sofort als egoistisch wahrnimmt, wenn sie nicht zuerst an Sasha in einer Sache denkt. Dieses erlernte Verhalten tat weh zu lesen, weil es ein so perfekter Abdruck davon ist, wie sehr Winnies Trauma sie geformt hat und wie schwer es ist so etwas zu entlernen.
Dann ist da Sasha, die, als das kränkliche Kücken der Familie, gelernt hat ihr Umfeld mit einer fröhlichen Art zu blenden, das Bedürfnis hat sich weniger erschöpft zu zeigen als sie wirklich ist, weil sie schon so viel von ihrem Umfeld braucht. Sasha, die genauso schnell andere verloren wirkende Menschen adoptiert wie sie sie ins Herz schließt und viel Liebe verteilt, weil es ihren Schmerz ausblendet. Sasha, die versucht so viel Leben und Erleben wie möglich in eine kurz bemessene Zeit zu quetschen, weil sie weiß, wie schnell ihr Alltag wieder aus Krankenhausgängen und Arztgesprächen bestehen könnte.
Und dann ist da noch Jo, die diese beiden Schwestern kennenlernt und als Person von Außen einen gänzlich anderen Blick auf die Beziehung hat, als die andere Protagonistin Winnie. Jo, die zurückhaltend ist und am besten von dem rumstehen-Emoji beschrieben scheint, aber eine ganze Welt an Gefühlen und Gedanken in sich verbirgt.
SCHRITT FÜR SCHRITT
Die Handlung entwickelt sich ähnlich wie die Romance eher langsam, weil sie direkt mit Jo verstrickt ist und nach einem PoV-Wechsel auch einige Dinge mehr Sinn ergeben. Ich fand es wenig überraschend als enthüllt wurde, was genau Jo macht, was mich aber nicht weiter gestört hat, weil die Welt, in der Jo existiert, so spannend ist. Weiter will ich erstmal gar nicht darauf eingehen, weil ich es so schön fand diese Welt ohne Vorwissen zu entdecken und mir eine unbeeinflusste Meinung zu bilden. Aber es ist cool. So cool!
FAZIT
Dieses Buch hat sich wie ein bewölkter Tag angefühlt, irgendwie zwischen Dämmerung und dem Versprechen auf Sonnenschein, ein bisschen melancholisch, ein bisschen nachdenklich, ein bisschen heilsam in seiner Ehrlichkeit. Anne Pätzold schafft es wie kaum jemand anderes den Alltag einer Depression abzubilden, sodass ich mich gleichzeitig entblößt und verstanden gefühlt habe.
Ich bin absolut verliebt in diese Geschichte, mit seinen komplizierten Geschwistern, zarten Gefühlen und langsamem Tempo, die sich wie eine sanfte Umarmung anfühlt.