In „Underground Railroad“ erzählt Colson Whitehead die Geschichte der Flucht der Sklavin Cora von der Randall Farm in Georgia - und die Geschichte der niederschmetternden Umstände, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die schwarze Bevölkerung Amerikas in den rassistischen Fängen der Sklaverei hielten.
Gegliedert in zwölf Kapitel, abwechselnd nach einer Person und einem amerikanischen Staat betitelt, öffnet das letzte Kapitel als „Der Norden“ die Enge der bisherigen Romanstruktur. Whitehead hat seinen Roman durchkomponiert und seinem Anliegen Form und Struktur des Romans unterworfen – aber auch die historische Wirklichkeit. Coras Geschichte wird chronologisch in den geographisch betitelten Kapiteln erzählt, dagegen berichten die nach Personen benannten Kapitel eben deren Geschichten in der nötigen Kürze und mit dem notwendigen Vorlauf: Man erfährt von Coras Großmutter und ihrer der Vorgeschichte auf Randalls Farm. Man lernt die Motivationen des Sklavenjägers Ridgeway kennen oder des Mediziners Stevens. Ethels und Caesars geheime Wünsche und Antriebsgründe werden in den jeweiligen Kapiteln berichtet und ganz zum Schluss das Schicksal von Coras Mutter Mabel, dessen Pointe so wenig überrascht, wie sie dennoch als Clou funktioniert.
Flucht aus Georgia
Cora flieht vor der Gewalt und Willkür, der sie als Sklavin ihrem Besitzer unterworfen ist, weil sie Hoffnung hat: Zum einen gelang schon einer Sklavin vor ihr die Flucht, ihrer Mutter Mabel nämlich, wohingegen alle anderen Fluchten in blutiger Bestrafung geendet hatten; zum anderen hofft sie auf Hilfe durch die „Underground Railroad“, einer Menschenschmuggelinstitution, die im Untergrund wirkt, um Sklaven zu helfen, den rettenden Norden Amerikas zu erreichen, wo sie frei sein können. Es ist ausgerechnet der Sklavenjäger Ridgeway, der als Erster die Existenz dieser Untergrundbahn erwähnt (S. 53). Cora wird von Caesar zur Flucht angestiftet, mit dem sie die Tunnels der Underground Railroad nutzt, um nach South Carolina zu fliehen. Sie wird vom Stationsvorsteher in Georgia aufgefordert, bei der Fahrt aus dem Fenster zu sehen: „Wenn man sehen will, was es mit diesem Land auf sich hat, dann muss man auf die Schiene. Schaut hinaus […] und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen.“ (S. 85)
Der goldene Käfig South Carolinas
Bisher war das wahre Gesicht Amerikas für Cora die Plantage der Randalls in Georgia. Die Erniedrigungen, die harte Arbeit, die Rechtlosigkeit, die Willkür und die Gewalt. Nun sieht sie das Gesicht South Carolinas, wo es keine Sklaverei gibt. Cora arbeitet als Hausmädchen, dann in einem Museum. In einem lebendigen Diorama stellt sie das Leben der Schwarzen dar: im afrikanischen Karl, bei der quälenden Überfahrt und als Plantagensklavin im amerikanischen Süden. In diesem Museum wird die Unwürdigkeit ihres Daseins gespiegelt und verzerrt. Cora begreift, dass sie hier in einem von Weißen erdachten Konstrukt von Wahrheit mitwirkt, das mit der Realität auf der anderen Seite nichts zu tun hat. „Die Wirklichkeit war eine wechselnde Auslage in einem Schaufenster, von menschlicher Hand verfälscht“. (S. 137) Das ist mit der Wahrheit freilich immer so, ganz unabhängig von der Rassenfrage. Cora aber wird durch ihre Museumserfahrung deutlich auf ein Grundprinzip der amerikanischen Gesellschaft gestoßen: Schwarze wie Weiße sind von anderen Kontinenten hierher gekommen, wobei die Weißen sich das Land und die Menschen aus Afrika einfach genommen haben, und das Unrecht der Neuen Welt lässt sich in dem Satz zusammenfassen: „Geraubte Menschen bearbeiten geraubtes Land“ (S. 138). Noch etwas Anderes lernt Cora: dass nämlich die Hilfsbereitschaft der Weißen in South Carolina keineswegs einem Muster der Sklavenbefreiung oder gar einem Weg in die Gleichberechtigung folgt. Im Gegenteil: Der Paternalismus der Weißen - hier veranschaulicht in der Gestalt von Dr. Stevens und einem Sterilisationsprogramm - führt zu einer Bevormundung der Schwarzen, die ebenfalls von tiefgehender Verachtung geprägt ist und nicht vom Gedanken der Menschenbrüderlichkeit. Zwar ist Cora hier freier, aber der noch lange nicht frei. Der Käfig in South Carolina ist nur subtiler und weniger gewalttätig, aber genauso existentiell (indem die Zukunft der Schwarzen durch die Unfähigkeit zur Nachkommenschaft beseitigt wird).
Rassistischer Terror in North Carolina und Tennessee
Der Sklavenjäger Ridgeway taucht wieder auf, und Cora muss durch den Untergrund erneut fliehen. Sie gelangt allerdings in die Sackgasse North Carolinas, wo die Station geschlossen ist und die Geflüchtete auf dem Dachboden des Stationsvorstehers Martin und seiner Gattin Ethel viele Wochen verbringen muss. Da ihr Versteck mitten in der Stadt ist, kann Cora beobachten, wie North Carolinas neue Rassengesetze die Schwarzen vollständig entrechtet und vernichtet haben. Eine Allee der Toten zieht sich bis zum Horizont, und jeden Samstag feiert sich der weiße Mob beim gemeinschaftlichen Lynchen der doch noch innerhalb der Grenzen aufgegriffenen Schwarzen. Die beklemmende Atmosphäre in diesem Bundesstaat ist von den faschistoiden Regulatoren und einer Kultur des Denunziantentums geprägt. Auch von hier kommt Cora hinfort, in den Ketten des Ridgeways, in das benachbarte Tennessee. Hier hat ein Buschfeuer, das ein Funke nur entzündet hat, das halb Land in Schutt und Asche gelegt. Das Feuer folgte der zwangsweisen Vertreibung der indianischen Ureinwohner aus Tennessee, die auf dem „Pfad der Tränen“ 1838/39 zu Tausenden vertrieben und in den Tod gedrängt wurden. Inmitten dieser Wüste aus Asche und Sand lenkt nicht Äußeres von dem Dialog zwischen Ridgeway und Cora ab.
Ridgway und Cora – der amerikanische Imperativ
Sklavenjäger und gejagte Sklavin führen mehrere Gespräche über die amerikanische Gesellschaft, das Selbstverständnis des weißen Mannes und die Ausweglosigkeit von Coras Hoffnung auf ein besseres Leben als Schwarze. Dieser Dialog ist das Herz des Romans, insbesondere was die rassistische Logik Amerikas betrifft. Hier offenbart Whitehead die tief zielende Kritik seines Romans an Amerika und seiner Gesellschaft, die auf einem Gründungsfundament fußt, das von Raubtieren errichtet wurde, dem Gesetz Amerikas. „Es bedeutet, dass man sich nimmt, was einem gehört, sein Eigentum, alles, was man dazu erklärt.“ (S. 254) Das sei der „amerikanische Imperativ“ (S. 255), das Gesetz einer Gesellschaft von Weißen für eine Welt in der alles möglich ist – wenn man weiß ist. Coras Kommentar: „Ich muss mal aufs Klo.“
Ridgeway als Vertreter der weißen Machthaber (des Südens) verdeutlicht die Ausweglosigkeit der Flucht für Cora. Selbst später, in Indiana, wo Ridgeway und Cora erneut aufeinandertreffen, wird deutlich, dass es für die Schwarzen in dieser Zeit und in dieser Welt kein Miteinander geben kann. „Als gäbe es auf der Welt keine Orte, wohin man sich flüchten konnte, sondern nur solche, die man fliehen musste (S. 295). Der kluge, aufgeklärte, gebildete Schwarze mit Erfolg ist eine Gefahr für den Weißen, erklärt Ridgeway, weshalb der Weiße den Aufstieg der Schwarzen nie dulden werde. „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“, schreibt Schiller in „Wilhelm Tell“. Und so ergeht es den Schwarzen in einer durch und durch rassistischen Welt, in der ein „Weltkrieg zwischen Schwarz und Weiß“ tobt. Denn vor der eigenen Hautfarbe kann man nicht fliehen.
Das ist der gegenwärtige Ansatz von Whiteheads Kritik an der amerikanischen Gesellschaft, in der noch immer der verderbte Kern der Anfangsjahre steckt. Der Gründungsmythos als „Heimat der Tapferen und Land der Freien“ hat die schwarzen Sklaven nicht einbezogen. Selbst wenn die (1813 gedichtete) amerikanische Hymne singt:
And the star-spangled banner
in triumph shall wave
O’er the land of the free
and the home of the brave!
Das Land der Freien muss sich wacker anstrengen um das Land der Freien zu bleiben, wenn schon die Gründungslegende eine Illusion ist. „Und auch Amerika ist eine Illusion, die größte von allen.“, sagt der Bürgerrechtler Lander in Indiana (S. 326).
Deshalb ist der Rat des Stationsvorstehers in Georgia, auf der Fahrt mit der Underground Railroad aus dem Fenster zu sehen, um das wahre Gesicht Amerikas zu sehen, ein sarkastischer Scherz, „[…] von Anfang an ein Witz. Auf ihren Fahrten herrschte vor den Fenstern nur Dunkelheit, und dort würde auch immer nur Dunkelheit herrschen.“ (S. 301)
Whiteheads Methode der Verdichtung
Autor Colson Whitehead bedient sich vieler historischer Ereignisse während Coras Flucht, die nie zeitgleich stattgefunden haben. Die Handlung ist in den 1850er Jahren anzusiedeln, noch vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg 1861/65, aber nach dem Pfad der Tränen 1838/39. Zu dieser Zeit gab es noch keine Fahrstühle in Hochhäusern; die Regulatorenbewegung in North Carolina war bereits fast fünfzig Jahre Geschichte, die geänderte Gesetzgebung in South Carolina folgte 3erst fast fünfzig Jahre späte r(und deutlich schwächer). Whitehead verdichtet den historischen Hintergrund, was deshalb stimmig ist, weil die Momente alle Facetten jener generationenübergreifenden rassistischen Diskriminierung sind, die Whitehead anprangert, weshalb das Datum für die historische Wahrheit unerheblich ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Underground Railroad selbst: es hat freilich nie eine Untergrundbahn in Amerika gegeben, auf der Sklaven aus dem Süden fliehen konnten. Die Bahn ist eine große Metapher für die geheimen Fluchtwege, die klandestinen Pfade der Freiheitsuchenden und das notwendige Dunkel, durch das die Flucht gehen musste. Die Metapher veranschaulicht auch, dass ein Unterfangen, dass sich gegen ein ganzes gesellschaftliches System stellt, vieler Hände Mithilfe bedarf und ein großangelegtes Unternehmen sein muss. Der Kunstgriff entspricht dem in der lateinamerikanischen Literatur besonders beheimateten „magischen Realismus“.
Fazit
Colson Whitehead hat ein für den deutschen Leser vollkommen unterbelichtetes Themenfeld aufgeschlossen und einen neuen Sklavenroman, einen Anti-Sklaven-Roman geschrieben. Er hat das kritische Thema in der Person Coras und dem Antagonismus zu Ridgeway angefasst und „erlebbar“ gemacht. Das ist großartig gelungen und zurecht mit dem politisch eingefärbten Pulitzer-Preis ausgezeichnet: „For a smart melding of realism and allegory that combines the violence of slavery and the drama of escape in a myth that speaks to contemporary America.” Whiteheads Stil ist dabei häufig journalistenhaft und nicht immer eingängig zu lesen, gleichwohl eines der wichtigsten Bücher des Jahres!