Keine kleinen Helden
Théo ist 12. Théo braucht den Kick. Am liebsten würde er sich selbst betäuben. Deshalb beginnt er zu trinken.
Delphine de Vigan hat in ihrem Buch „Loyalitäten“ einen Protagonisten geschaffen, der vom ...
Théo ist 12. Théo braucht den Kick. Am liebsten würde er sich selbst betäuben. Deshalb beginnt er zu trinken.
Delphine de Vigan hat in ihrem Buch „Loyalitäten“ einen Protagonisten geschaffen, der vom Leben nur so gebeutelt ist. Stoff genug für einen ganzen Roman. Doch Delphine de Vigan hat daraus ein Kleinod gemacht, das eher einer Novelle entspricht als einem Roman.
Aus der Sicht von vier Personen (Théo, sein Freund, dessen Mutter und eine Lehrerin) entspinnt sich die Geschichte. Eine Geschichte, die so viel Stoff bietet, weil jeder mit sich selbst beschäftigt ist. Jeder hat seinen eigenen Packen zu tragen, jeder hat seine eigenen Erfahrungen, mit denen er andere beurteilt.
So viel Stoff wirkt bei Delphine de Vigan aber keineswegs erschlagend. Immer wieder lenkt sie geschickt den Blick auf Théo und geschickt bringt sie die Aussagen immer wieder auf den Punkt. Delphine de Vigan ist eine Meisterin der Sprache und der sprachlichen Zuspitzung. Knapp und schnörkellos schreibt sie. „Wir sind alle Verbrecher“, lässt sie die Mutter sagen. Besser kann man ihre Lebenseinstellung kaum auf den Punkt bringen. Helden gibt es bei der französischen Autorin nicht. Nicht einmal kleine Helden.
Théo ist weder Held noch Anti-Held. Im Grunde sind ihm Zuschreibungen von außen sowieso egal. Denn er ist mit sich selbst mehr als genug beschäftigt. Er ist ein Scheidungskind, das heißt: eine Woche verbringt er beim Vater, eine bei der Mutter. Doch niemand scheint zu bemerken, wie überfordert er von dieser Situation ist. Ein Tinnitus ist die Folge. Théo will ihn sich wegtrinken, er will, dass etwas in seinem Gehirn explodiert, er sehnt sich danach, „für ein paar Stunden oder für immer in das dicke Gewebe der Trunkenheit zu fallen, sich davon bedecken, begraben lassen“. Er will das Stadium erreichen, in dem das Gehirn in den Ruhezustand geht.
Diese Entgrenzung verhindert, dass man in Théo einen kleinen Helden sehen kann. Wenn man liest, wie sehr sich Théo um seinen arbeitslosen Vater kümmert, der sich immer mehr gehen lässt, wie er für ihn einkauft, versucht eine Woche lang von 20 Euro zu leben, für ihn aufräumt, ihm Stellenangebote im Internet heraussucht – man glaubt, dass man einen kleinen Helden vor sich hat. Diese Erklärung bricht jedoch in sich zusammen, wenn man sieht, wie sehr Théo von dieser Situation überfordert ist und daran zu zerbrechen droht.
Nein, „Loyalitäten“ ist ein Buch ohne Helden. Ein Buch, das aufzeigt, wie wichtig es ist, miteinander zu reden, weil wir uns nicht von selbst verstehen. Und „Loyalitäten“ zeigt eindrücklich auf, wie sehr Kinder unter ihren familiären Verhältnissen zu leiden haben können.