Unrecht und Ungerechtigkeit
Henrike Engels Roman „Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen“ ist der dramatische Auftakt einer spannungsreichen Serie um die Ärztin Anne. Im ersten Band trifft sie an einem frühen Morgen ...
Henrike Engels Roman „Die Hafenärztin. Ein Leben für die Freiheit der Frauen“ ist der dramatische Auftakt einer spannungsreichen Serie um die Ärztin Anne. Im ersten Band trifft sie an einem frühen Morgen des 2. Januars 1910 mit dem Schiff aus London in ihrer Geburtsstadt Hamburg ein. „Sie kam nicht aus freien Stücken.“ (Henrike Engel) Ein Geheimnis umgibt die Ärztin von Beginn an, das aber im Verlauf des Romans kaum gelüftet wird.
1910 leben in den Elendsquartieren der Hansestadt Zehntausende Menschen auf engstem Raum, wegen der hohen Mieten und des geringen Angebots häufig mehrere Familien in einer Wohnung. Ein Drittel der Einwohner lebt in den fast mittelalterlichen Gängevierteln am Hafen, unter katastrophalen hygienischen und sozialen Bedingungen. Hier herrscht Prostitution, ist Kleinkriminalität wie zum Beispiel Lebensmittel- und Kohlendiebstahl alltäglich.
„Als eine der ersten Ärztinnen Deutschlands hat Anne gerade ein Frauenhaus eröffnet. Ihre Mission ist es, Frauen zu helfen, denen Leid zugefügt wurde. Als die couragierte Pastorentochter Helene bei ihr auftaucht und mitarbeiten will, unterstützt Anne die junge Frau in ihrem Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun.“ (aus der Inhaltsangabe des Verlages).
Zwei Leichen von jungen Frauen werden entdeckt, die offensichtlich Kontakt zu der sozialen Einrichtung von Anne hatten. Es beginnt eine spannende Geschichte, die den Leser schnell fesselt. Wer waren die beiden Opfer, die professionell hingerichtet wurden? Warum mussten sie sterben?
Mit dem fussballbegeisterten Kommissar Berthold Rheydt betritt ein weiterer sympathischer Protagonist das Geschehen. Er ermittelt akribisch und steht neuen Methoden und Verfahren aufgeschlossen gegenüber. So ist es nicht verwunderlich, dass er bald interessante Spuren findet, die aber nicht jedem genehm sind. Dennoch hat er die Unterstützung seiner Vorgesetzten und findet aufschlussreiche Verbindungen zu den kolonialen Aktivitäten jener Zeit.
Henrike Engel gelingt es den Leser mitzunehmen und ihn tief eintauchen zu lassen in die Salons progressiver Bürger, das scheinbar gutbürgerliche Pfarrhaus von Helenes Eltern und immer wieder in die dunklen Gassen des Gängeviertels am Hafen. Hier wird anhand von Schicksalen gezeigt, wie schwer das Leben für die Bewohner war – ein täglicher Kampf ums Überleben.
Sie erzählt in drei Teilen eine spannende Geschichte. Ihr Schreibstil ist flüssig und sehr gut zu lesen. Die handelnden Personen sind sehr gut beschrieben und charakterisiert. Menschenkenntnis und Sachkunde bereichern den Roman. Ihre Recherchen zum historischen Hintergrund können mit einer gut in die Zeit eingebetteten Handlung überzeugen.
Der Roman lässt sich ausgezeichnet lesen und die Spannung steigt stetig an, bis zu einem Ende, mit dem ich nicht gerechnet habe. Das Buch zeigt die Lebens- und Arbeitsbedingungen am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr anschaulich. Es berichtet lebendig und vielschichtig vom Kampf für Frauenrechte, soziale Gerechtigkeit und dem täglichen Überlebenskampf. Es ist ein beeindruckender historischer Roman für den die Autorin sehr gut recherchiert hat und dem ich 5 Sterne gebe.
Für jeden historisch interessierten Leser ein empfehlenswertes Buch. Ich freue mich schon auf den zweiten Band und bis gespannt, was Anne noch erleben wird und warum sie London fluchtartig verlassen musste.
Das Rezensionsexemplar wurde mir dankenswerter Weise von NetGalley zur Verfügung gestellt und hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.