Starke Nerven brauchen die jungen Leser für diese Geschichte, so warnt der Autor bereits, bevor es so richtig los geht mit dem in der Tat spannenden und durchaus auch erschreckenden und gruseligen, aber in jeder Beziehung wunderbaren Fantasyabenteuer. Und auch zwischendurch hält er immer wieder inne, kündigt an, dass uns etwas besonders Furchterregendes bevorsteht und man besser nicht weiterliest, sofern man es sich gerade im Bett, mit der Taschenlampe unter der Decke, womöglich noch mit den Eltern außer Haus, gemütlich gemacht hat, und zu warten, bis es heller Tag ist. Besorgt ist er um seine Leser, stets darauf bedacht, sie nicht unvorbereitet in einen Abgrund des Bösen stürzen zu lassen, das in seinem Roman die Herrschaft über das Gute, das Licht zu erringen versucht.
Die Leser während einer Romanhandlung direkt anzusprechen, informierend, Fragen stellend, zum Nachdenken, zum Innehalten bringend, oder, wie hier, sie vorwarnend, kannte ich bisher nur von Erich Kästner, der in all seinen Kinderbüchern mit den Lesenden in einen Dialog trat; es war sozusagen ein Markenzeichen des großen Kinderfreundes und Moralisten. Dieses sehr ansprechende Stilmittel nun auch hier wiederzufinden, so viele Jahre nach der Erstveröffentlichung der Kästnerschen Kinderromane, hat mich außerordentlich gefreut und mich sofort für Toni M. Jacobys phantasievolles Märchen eingenommen! Und obschon 'Tom Tolliver und die Zauberkrautinsel' ein gänzlich anderes Genre bedient als Kästners Jugendbücher, so gibt es doch noch eine weitere, unübersehbare Parallele: die Botschaften ähneln sich, überschneiden sich. Hier wie dort geht es um Tapferkeit, um Freundschaft und Aufrichtigkeit. Hier wie dort auch schreibt jemand, der sich mühelos in Kinderseelen hineinversetzen kann, dem seine jugendlichen Leser am Herzen liegen, der sie und ihre Träume, wie auch Ängste ernst nimmt, der auf Augenhöhe zu ihnen spricht – und dies durchaus mit einem Augenzwinkern, gerade dann, wenn es so richtig ernst und erschröcklich zur Sache geht.
Und das genau ist der Fall in Toni M. Jacobys Roman; ganz anders ernst freilich geht es zu als bei Herrn Kästner, den ich nunmehr verlasse, um mich ganz der Besprechung des ersten Bandes um Tom Tolliver zu widmen. Nicht explizit erfährt man vor Beginn der Lektüre, dass es eine oder mehrere Fortsetzungen geben wird, wobei gegen Ende klar wird, dass es schon eine Zeit und einige haarsträubende Abenteuer mehr dauern wird, bevor – und davon dürfen die jungen und auch die nicht mehr ganz so jungen Leser ausgehen – die Hüter des Lichts, die Luxa, über die furchterregenden dunklen Mächte, verkörpert durch einen Urahnen unseres Titelhelden, siegen werden.
Sympathischerweise – und so entwaffnend aufrichtig habe ich das auch noch nicht in einem Nachwort gelesen – verrät uns der Autor, dass er selbst noch nicht weiß, wohin die Reise geht, dass er auf Inspirationen wartet, die ihm von überallher zufliegen können. Und, so verspricht er, sobald sich etwas tut, wird er das für seine Leser niederschreiben. Und darauf freue ich mich jetzt schon, denn die Vorfreude … - nunja, den Rest der tröstlichen Weisheit kennt man schließlich aus eigener Erfahrung!
Bei der Unzahl der Fantasy-Romane, die sich auf dem Büchermarkt tummeln und von denen die meisten, man verzeihe mir diese Einschätzung, sich ständig wiederholende Massenware sind, ist es gewiss nicht einfach, sich etwas Pfiffiges, ganz Neues einfallen zu lassen. Aber genau das ist Tom Tollivers geistigem Vater gelungen! Nicht nur seine sympathisch-empathische Schreibweise nimmt auf Anhieb für sich ein, sondern ebenso die Geschichte selbst mit seinen nicht alltäglichen Charakteren, die entweder abgrundtief böse oder bezaubernd und warmherzig und ganz und gar liebenswert sind. Dass ein Junge, kaum hat er die magische Altersgrenze 10 überschritten, entdeckt, dass er keineswegs so ist, wie die Kinder seines Alters, ist natürlich nicht neu. Harry Potter war da richtungsweisend! In der Regel aber sind die zauberisch-zauberhaften Eigenschaften, die da plötzlich zu Tage kommen, etwas Positives, was bei dem Jungen Tom, der ohne Mutter und mit einem selten anwesenden, weil als Kapitän die Weltmeere befahrenden, Vater in einem Fischerdorf bei Freunden der Familie aufgewachsen ist, gar nicht klar ist, ganz im Gegenteil! Zunächst!
Nachdem er den Vater allein durch seine Gedanken teleportiert hat, ist letzterem klar, dass nun Handlungsbedarf besteht und der Junge, dem nun Gefahr droht, so schnell wie möglich in Sicherheit gebracht werden muss. Nicht wenig verwundert ist man dann, wenn man erlebt, wie Tom in ein Fischerboot gesetzt wird mit der Anweisung, den See zu überfahren, um zu seinem ihm bis dato unbekannten Großvater auf der Zauberkrautinsel zu gelangen. Alleine! Ein elfjähriger Junge? Nun, um es positiv auszudrücken, wie gut, dass man dem Knaben so viel Eigenständigkeit zutraut, zumal er nicht gerade mit Zuwendung verwöhnt worden ist in seinem bisherigen Leben, wie man mutmaßen darf... Wie dem auch immer sei, Tom erreicht mit viel Mühe und der unschätzbaren Hilfe des munter plappernden Bibers Fex die Insel – und kommt von da an aus dem Staunen nicht mehr heraus! Da begegnet ihm nicht nur ein nicht alltäglicher Großvater, sondern gar sprechende Tiere, die sich verwandeln können – in wieder andere Tiere oder in Menschen -, ein geheimnisvoller Frauen-Orden, eben jene Luxa, die Hüterinnen des Lichts, und ein schon vor über dreihundert Jahren verstorbener Superbösewicht, der bereits erwähnte Urahne Toms, der wieder aufzuerstehen droht aus seinem doch nicht so hermetisch versiegelten Grab auf der kleinen Nachbarinsel, und der nicht nur nach Toms Leben trachtet, sondern auch danach, das Böse über die Welt kommen zu lassen, was um jeden Preis verhindert werden muss!
Und dann ist da noch, beinahe das Wichtigste, auf jeden Fall aber das Rätselhafteste, Toms verschwundene Mutter, eine einst überaus begabte und mächtige Luxa, die sich aber, um ihren Sohn zu schützen, selbst mit einem Fluch belegt hat und zur dunklen Magika geworden ist. - Wie genau sich das verhält, soll hier selbstverständlich nicht verraten werden! - Und, wie weiland Harry Potter, ist auch Tom Tolliver derjenige, der die Welt retten muss, der Auserwählte, wenn man so möchte. Aber da hören die Ähnlichkeiten mit dem Jungen mit der gezackten Narbe auf der Stirn auch schon auf, wie man alsbald sehen wird!
Ein Feuerwerk an originellen, auch wenn es ernst und düster wird, humorigen Ideen entzündet sich über den Lesern, reißt sie mit in einen Strudel von Schlag auf Schlag aufeinanderfolgenden Abenteuern, eines gefährlicher, spannender, erstaunlicher als das vorherige. An Aufhören ist wirklich nicht mehr zu denken, hat man denn die Warnungen des Autors gleich zu Beginn in den Wind geschlagen! Dann nimmt man auch das wohlig-gruselige Gefühl, nachts, allein, mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, gerne in Kauf....