Abgrund und Alltag in Carthago Nova
Wer nach einem gemütlichen historischen Wohlfühl-Schmöker sucht, sollte die Finger von „Ich, Sperling“ lassen, denn der Roman ist harter Tobak, aber guter.
James Hynes taucht mit seinem Protagonisten ...
Wer nach einem gemütlichen historischen Wohlfühl-Schmöker sucht, sollte die Finger von „Ich, Sperling“ lassen, denn der Roman ist harter Tobak, aber guter.
James Hynes taucht mit seinem Protagonisten der vielen Namen (Maus, Antinoos, Antiochus, Pusus) tief in eine Identitätssuche ein, die sich in Carthago Nova (dem heutigen Cartagena/Spanien) entspinnt, während das Römische Reich in seinen letzten Zügen liegt. Pusus, mittlerweile gealtert und nun Jakob genannt, erinnert sich an seine Kindheit in der hispanischen Hafenstadt, die alles andere als angenehme Erinnerungen beinhaltet. Wie könnte sie auch? Auf einem Sklavenschiff in der Stadt gelandet, von dem Dominus eines Bordells gekauft, wächst der kleine Junge zwischen den Wölfinnen genannten Prostituierten auf, verrichtet erst Botendienste und Küchenarbeiten bis er schließlich selbst zur Wölfin wird.
James Hynes schont seine Leser nicht. Das römische Reich mit seinem auf Sklaven beruhenden System wird in seiner Grausamkeit und Brutalität bis ins letzte Detail, also auch bis in die Zellen der Wölfinnen, ausgemalt. Zwar wird auf erotische Schauwerte verzichtet, aber der geschilderte Geschlechtverkehr ist nichts für empfindliche Gemüter.
Ebenso rau wird der Alltag in dem Viertel, in dem die Taverne „Helikon“ liegt, mit seinen Gerüchen und Geräuschen, seinen Gebäuden und seinen Menschen geschildert, sehr plastisch und überaus lebendig– als Leser ist man mittendrin im täglichen Leben einer römischen Provinzstadt und lernt nebenbei ganz viel über römische Gesellschaftsklassen, Handwerker, Handel, Regeln und Gesetze – alles aus der Perspektive derer, die ganz unten im Ansehen stehen und keine Stimme haben.
So beeindruckend dieses tiefe Eintauchen in die Welt der Antike ist – man ist wirklich ganz dicht dran – so grausam, fordernd und brutal ist es zu lesen, wie der Protagonist selbst in seiner grenzenlosen Abhängigkeit in die Prostitution gezwungen wird. Viele Details und Szenen sind unerträglich, verdeutlichen aber wie ausweglos die Situation und wie groß die Ohnmacht und Abhängigkeit von Sklaven war. Inmitten all der Rohheit und Gewalt eröffnen sich allerdings immer wieder Momente großer Zuneigung und Liebe – im Rahmen ihrer Möglichkeiten kümmern sich die Wölfinnen um den Jungen, der so nicht nur etwas Wärme erfährt, sondern auch ein Mindestmaß an Bildung.
Neben der Erkundung der Abgründe der römischen Gesellschaft, ihres opportunistischen Verhältnisses zum frühen Christentum und ihres Alltags, legt Hynes den Fokus auf die eingangs erwähnte Identitätssuche: Wer kann man sein, wenn man seine Wurzeln nicht kennt, nichts über die eigenen Herkunft weiß, nur raten kann, aus welchem Land man kommt? Wer kann man sein, wenn man keinen Namen hat, nur „Junge“ heißt und letztlich ein Objekt ist, das jederzeit wieder auf dem Markt verkauft werden kann? Wie wirken sich Traumata und fehlende Nestwärme, Gewalt und Brutalität, Unfreiheit und dauernde Angst auf das Heranwachsen aus?
Auch wenn der Roman nur eine fiktionale Antwort auf diese Fragen geben kann, ist diese doch überaus überzeugend und nachvollziehbar, nicht zuletzt, weil dem Autor mit seinem Protagonisten eine Figur gelungen ist, die die Sympathie auf sich zieht, mit der man mitleidet und um die man bangt, die sich aber nie selbst bemitleidet, sondern in überaus sachlichem Ton die Begebenheiten der Vergangenheit schildert. Hinzu kommt, dass das erzählende Ich von Beginn an jede Lesererwartung im Keim erstickt und der Roman dadurch schon weitab vom traditionellen historischen Roman mit seiner Tendenz zu vorgezeichneten Handlungskurven und Figurenzeichnung liegt – ich hätte mir lediglich gewünscht, dass man mehr über die Jahre, die zwischen Antinoos und Jakob liegen, erfährt.
Das Carthago Nova aus „Ich, Sperling“ fühlt sich so echt an, wie es nur geht. Mitreißend und spannend wird hier eine Geschichte ausgebreitet, die sich so wohl hunderttausendfach im Römischen Reich zugetragen haben könnte. Sprachlich anspruchsvoll mit sehr viel historischem Hintergrund lässt einen „Ich, Sperling“ sprachlos, erschüttert und beeindruckt zurück. Eine Leseempfehlung, allerdings nichts für zartbesaitete Seelen.