Das Leben als solches
Eine Frau, vielleicht Julia Schoch, vielleicht eine andere, wird auf einer Lesung angesprochen. Und zwar mit der Aussage, sie und die Ansprechende hätten denselben Vater. Was die Protagonistin ...
Eine Frau, vielleicht Julia Schoch, vielleicht eine andere, wird auf einer Lesung angesprochen. Und zwar mit der Aussage, sie und die Ansprechende hätten denselben Vater. Was die Protagonistin nicht verwundert, denn der Umstand, dass es irgendwo eine weitere mögliche Schwester gibt, ist ihr bekannt - schon seit Ewigkeiten, sie weiß gar nicht, wie lange schon.
Diese Begebenheit wird der Protagonistin zum Anlass, sich selbst, ihr Verhältnis zu ihren Verwandten und zu ihrem Umfeld zu hinterfragen und zu beleuchten. Ja, es ist etwas von alledem und weil die Autorin Julia Schoch wundervoll zu schreiben vermag, habe ich ihren Text, den sie als Roman bezeichnet, durchaus genossen. Auch wenn er mich sehr verwirrt hat, aber das haben ihre Bücher so an sich, bei der Lektüre von "Schöne Seelen und Komplizen" war meine Verwirrung noch viel größer.
Es sind nicht die Geschehnisse, auf denen das Hauptaugenmerk der Autorin liegt, nein, es sind die Gedanken der Hauptfigur, der geistige, innere Umgang mit ihrem eigenen Hier und Jetzt, mit ihrer Vergangenheit und einer möglichen Zukunft, die im Fokus stehen.
Es scheint, als würde die Protagonistin sich oft selbst nicht verstehen, ihr Handeln in Frage stellen - vieles aber auch zu entschuldigen. Ich wundere mich beispielsweise über die vielen Freiheiten, die sie sich während ihres Arbeitsaufenthaltes in den Vereinigten Staaten nimmt, wo sie sich in Begleitung ihrer Kinder und ihrer Mutter aufhält. Eine Art ständige Bereitschaft zur Toleranz mit sich selbst kommt da bei mir an, die mir fremd ist.
Auf der anderen Seite gab es immer wieder auch Momente, in denen ich die Erzählerin nur zu gut verstehe, weil ich ähnliches durchlebt habe. Zum Beispiel in Bezug auf das unangenehme "Erwischt-Werden" durch andere Menschen, auch durch die nächsten Verwandten: "Ich glaube, die Wahrheit, um die es den meisten von uns geht, ist am ehesten dort zu finden, in jenen Momenten und Situationen, in denen unsere Existenz keine Zeugen hat." (S. 115)
Diese Passage bietet zugleich einen Einblick in die besondere Sprache der Autorin: ein ungewöhnlicher, sehr reicher Stil, sowohl was den Wortschatz als auch was die Bezugnahme auf andere Texte angeht.
Willkommen im Universum der Julia Schoch! Der Leser wird nicht wenig gefordert, was seine Aufmerksamkeit, seine Bereitschaft, in die Gedankenwelt der Protagonistin einzusteigen, angeht. Er bekommt aber - so meine Meinung - auch viel zurück: einen eleganten, facettenreichen literarischen Text, der mit nichts anderem zu vergleichen ist.