Die Außenseiterin ohne Namen
In einem kleinen Ort namens Schönes Dorf, gelegen auf einer recht einsamen Insel, ticken die Uhren noch anders. Dort haben die 13 Männer des Ältestenrates das Sagen und die Religion spielt eine zentrale ...
In einem kleinen Ort namens Schönes Dorf, gelegen auf einer recht einsamen Insel, ticken die Uhren noch anders. Dort haben die 13 Männer des Ältestenrates das Sagen und die Religion spielt eine zentrale Rolle im Alltag der Bewohner. Im Haus des Geistlichen Prahan lebt eine 15-Jährige, die als Findelkind noch im Babyalter von ihm aufgenommen wurde. Der sogenannte Bethaus-Vater verlangt seinem Pflegekind einiges an Arbeit ab, ist aber gut zu ihr und tut sein Möglichstes, um dem Teenager die Eltern zu ersetzen. Doch außerhalb des geborgenen Heims hat es die Jugendliche schwer. Wegen ihrer unbekannten Herkunft wird der Außenseiterin ein Name verweigert, sie wird beschimpft, gemobbt und in vielfacher Hinsicht ungerecht behandelt. Allerdings haben sich auch die übrigen Einwohner des Dorfes an strenge Regeln und einige Einschränkungen zu halten. Vor allem die Frauen haben es nicht leicht. Die 15-Jährige jedoch beginnt, das System zu hinterfragen, und probt im Geheimen den Aufstand…
„Miroloi“ ist der Debütroman von Karen Köhler.
Meine Meinung:
Der Roman besteht aus 128 kurzen Kapiteln, die als Strophen deklariert werden und jeweils eine knappe Überschrift haben. Die Geschichte wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht der jungen Frau erzählt – und zwar in chronologischer Reihenfolge, aber mit mehreren kurzen Rückblenden. Der Aufbau ist gut durchdacht.
Sprachlich konnte mich der Roman überzeugen. Der Schreibstil erscheint zunächst recht primitiv, stellt sich nach einigen Seiten aber als einzigartig heraus. Eine einfache Syntax mit einigen Wortwiederholungen ist auffällig. In semantischer Hinsicht ist die Lektüre allerdings vor allem wegen ihrer kreativen Metaphern und Wortneuschöpfungen interessant. Gut gefallen haben mir auch die poetische Note und der Detailreichtum. Zudem gelingt es der Autorin, mit wenigen Sätzen eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Schon nach den ersten Kapiteln hat es der Roman geschafft, mich zu fesseln.
Mit der namenlosen Jugendlichen dreht sich die Geschichte um eine reizvolle Protagonistin, deren Gedanken- und Gefühlswelt sehr gut nachvollziehbar ist. Ihre Entwicklung wirkt glaubhaft. Auch einige andere Personen wie die alte Mariah sind interessant dargestellt. Zwar gleitet das Buch bisweilen bei manchen Figuren etwas zu sehr ins Schemenhafte ab, was vor allem bei den „Bösen“ auffällig ist. Das hat mich allerdings nicht besonders gestört, weil sich darin der Parabel-Charakter des Romans offenbart.
Angesiedelt ist die Geschichte in einem fiktiven Ort, in dem die Bevölkerung in einer fiktiv ausgestalteten Gesellschaftsform lebt, die rückständig ist und viele Errungenschaften der modernen Zivilisation ablehnt. Das Worldbuilding wirkt schlüssig, Logikbrüche sind für mich nicht zu erkennen. Das System erschließt sich Stück für Stück. Zwar gibt es Redundanzen. Der mehr als 450 Seiten umfassende Roman bleibt jedoch kurzweilig und kann einige Überraschungen bieten.
Inhaltlich ist der Roman keine leichte Kost und verfügt über eine Menge Tiefgang. In der öffentlichen Wahrnehmung wird oft die feministische Komponente des Werkes betont. Der Kampf gegen patriarchische Strukturen und die Unterdrückung der Frau spielen tatsächlich eine große Rolle. Doch thematisch hat die Geschichte noch viel mehr zu bieten: die Folgen einer Diktatur von wenigen, verschiedenartige Gewalt an den Schwachen, Mobbing von Minderheiten, religiösen Wahn und Diskriminierung jeglicher Art. Es geht um den Kampf für Freiheit in unterschiedlichen Ausprägungen, um Freundschaften, Zusammenhalt und Liebe. Obwohl die Geschichte wohl vor etwa 30 Jahren spielt (ein genauer Zeitpunkt wird nicht genannt), ist die Thematik brandaktuell, sodass der Roman zum Nachdenken anregen kann. Dazu passt hervorragend, dass am Ende doch noch die eine oder andere Frage offen bleibt.
Das Cover der gebundenen Ausgabe gefällt mir sehr. Der Titel, der sich auf das Totenlied bezieht, das jedem Verstorbenen individuell gesungen wird, ist ebenfalls treffend gewählt.
Mein Fazit:
„Miroloi“ von Karen Köhler ist ein außergewöhnlicher Roman, in dem mehr steckt, als sich auf den ersten Blick zeigt. Eine empfehlenswerte Lektüre vor allem für denjenigen, die sich auch gerne mit unbequemer Literatur auseinandersetzen.