ein Buch, bei dem man mitleidet
„Er hatte mehr Humor, als ihm guttat. Einerseits erfüllte er das Klischee des seelisch labilen Rockstars, der sich in die Arme von Alkohol und Drogen geflüchtet hatte und so viele Tattoos auf der Haut ...
„Er hatte mehr Humor, als ihm guttat. Einerseits erfüllte er das Klischee des seelisch labilen Rockstars, der sich in die Arme von Alkohol und Drogen geflüchtet hatte und so viele Tattoos auf der Haut trug, dass man mit der Tinte eine komplette Ausgabe von Krieg und Frieden drucken könnte, andererseits war er ein verlorener Junge. Ein unglaublich witziger verlorener Junge. Und dazu noch überaus liebenswert, auch wenn er gegenteiliger Ansicht war.“ (Indie über Alex in Midnight Blue)
Worum geht’s?
Als Indie ein gutbezahlter Job angeboten wird, zögert sie nicht lange, denn sie braucht dringend Geld. Bei einem Verdienst von 100.000 Dollar pro Monat soll sie für drei Monate mit Alex auf Tournee gehen. Alex Winslow, Rockstar, alkoholabhängig, drogenabhängig, psychisch labil, treibt seine Crew in den Wahnsinn. Eine letzte Chance hat er, eine Tour zu absolvieren, doch hierfür muss er trocken und clean sein. Und hier kommt Indie ins Spiel. Sie soll dafür sorgen, dass er die drei Monate durchhält. Alex will Indie von Tag 1 an loswerden, doch Indie? Die denkt gar nicht daran, aufzugeben. Schon bald muss sie erkennen, dass hinter Alex‘ Fassade viel mehr verborgen liegt. Und auch Alex realisiert bald, dass Indie ihn ungeahnt inspirieren kann. Turbulente drei Monate liegen vor den beiden, in denen Indie Alex‘ Abhängigkeit und ihr eigenes Herz in Zaum halten muss..
Midnight Blue ist ein Einzelband und in sich geschlossen.
Schreibstil / Gestaltung
Das zurückhaltende Cover zeigt eine Hand an einer Gitarre. Dies passt sehr gut zum Buch, da Alex regelmäßig an seiner Gitarre Tania spielt. Auch zum Genre passt das sehr gut und gibt einen Hinweis auf eine musikalische Geschichte. Ich finde das dezente Cover sehr gelungen, im Gegenteil zum Cover der digitalen Variante.
Das Buch verläuft linear mit den wechselnden Ich-Erzählern Indie und Alex. Wer erzählt, ist entsprechend übertitelt, allerdings merkt man auch an der Erzähl- und Denkweise deutlich, wer aktuell erzählt. Denn Alex und Indie haben ganz eigene Persönlichkeiten, die die Autorin auch gut rüberbringt. So ist vor allem Alex regelmäßig am Fluchen. Entsprechend finden sich in dem Buch einige Kraftausdrücke und zahlreiche sexuelle Anspielungen. Der Schreibstil der Autorin ist gewohnt flüssig und gut lesbar.
Mein Fazit
L. J. Shen ist eine der Autorinnen, bei denen ich relativ bedenkenlos zugreife. Ihre komplexen Geschichten um Typen, die einen kleinen Knacks haben, konnten mich bisher immer recht gut begeistern. Als ich dann noch sah, dass sie eine Rockstar-Romance-Geschichte herausbrachte, war es um mich geschehen und mir war klar: Ich muss das Buch lesen.
Direkt zu Beginn dürfen wir Indie kennenlernen, die sich auf einen Job beworben hat, der sich als hochgradig schwierig herausstellt: 3 Monate auf Tour mit Alex, ihn von Drogen, Alkohol und Skandalen fernhalten. Da sie das Geld dringend braucht, nimmt sie den Job an. So schlimm kann es doch nicht sein, oder? Dass Alex Indies fast ein Dutzend Vorgängerinnen wahlweise durch seine Wutausbrüche oder sein Geschlechtsteil verjagt hat, weiß sie da noch nicht. Als sie das erste Mal auf ihn trifft und er direkt das komplette Register an Abneigung abspielt, weiß Indie, dass die kommenden Wochen schwer werden. Doch sie will nicht aufgeben, denn das Geld braucht sie dringend. Und so setzt sie sich gegen Alex‘ Schikanen zur Wehr und erkennt dabei Stück für Stück, was der wahre Alex und was seine Fassade ist. Und auch Alex gibt bald auf, denn Indie ist anders. Neben seinem unbändigen Verlangen, Indie ins Bett zu bekommen, fühlt er sich merkwürdig inspiriert von ihr. Und nach einer ewigen Schreibblockade ist es diese kuriose, blauhaarige Mädchen, was ihn zu neuen Songs antreibt. Wird sich Indie als Alex‘ dringend nötigen Rettungsring herausstellen oder wird der kaputte Alex, der immer noch Rache an seiner Ex nehmen und sie zugleich zurückhaben möchte, Indie in den Abgrund zerren und ihr Herz zerschmettern?
Oh, was habe ich bei diesem Buch gelitten! Gar nicht so sehr auf der typischen Herzschmerz-Trauer-Art, sondern vielmehr aus Mitleid mit Alex. Man mag es kaum glauben, aber ja, dieser ungehobelte Kerl, der Indie permanent in den Wahnsinn treiben wollte, hat sich ganz tief in mein Herz gegraben. Ich konnte seinen Schmerz spüren, seine Verzweiflung, wie kaputt er war. Die Autorin hat es geschafft, dass ich Hoffnung für einen Protagonisten habe, der so kaputt und so arrogant und unfreundlich ist, dass man ihn eigentlich nicht mögen kann. Aber ich konnte es. Ich wollte, dass endlich jemand hinter seine Fassade guckt, sein zerbrochenes Herz wieder zusammensetzt und erkennt, wie schlecht es um ihn steht. Stark depressiv, vielleicht sogar mit suizidalen Tendenzen, auf jeden Fall mit sehr großen Selbstzweifeln ertränkt er sein Leben im Alkohol und versucht mit belanglosem Sex eine Lücke zu füllen, die so nicht gefüllt werden kann. Dieses Buch tut weh. Auf so vielen Ebenen. Wie Alex mit Indie umgeht, wie Indie die Trauer ihres Bruders miterleben muss, wie Alex sich selbst zugrunde richtet – hier liegt sehr viel verborgen in einer Geschichte, die anfangs nach einer Standard-0815-Rockstar-Mäuschen-Geschichte klingt. L. J. Shen schafft es jedoch auch, durch starke Wortgefechte, einzelne Witze und wohldosierten Humor, das Buch stellenweise etwas aufzulockern, ohne dass es lächerlich oder deplatziert wirkt.
Es sind so viele Elemente in diesem Buch, die das Buch rund machen. Es sind die kraftvollen Wortgefechte zwischen Alex und Indie, es ist Indies Willensstärke, die humorvollen Elemente zur Auflockerung der Geschichte, der Einblick in die Seelenwelt von Alex und sein Faible für Drogen und Alkohol. Ich habe mich abgeholt gefühlt und durfte miterleben, wie das Starleben Spuren an Alex hinterlassen hat, welche Rolle Alkohol und Drogen für ihn spielen, wie der Kopf eines Süchtigen nicht von heute auf morgen geheilt ist. Ich durfte miterleben, wie sich Indie bedingungslos opfert, um ihre Familie unterstützen zu können, und sich hierbei von Alex niedermachen lassen muss – was sie sich aber nicht gefallen lässt. Indie und Alex wachsen aneinander und miteinander.
Alex und Indie sind ein Feuerwerk. Die beiden zusammen, da fliegen die Fetzen und sprühen die Funken. Die Autorin ist für mich sowieso die Meisterin der kaputten Badboys und mit Alex hat sie ganze Arbeit geleistet. Mir ist selten ein so komplexer und vielschichtiger Charakter begegnet, der so undurchschaubar und gleichzeitig so nachvollziehbar ist. Das Leben als Superstar im Fokus der Öffentlichkeit, die Geschehnisse seiner Vergangenheit, der Erfolgsdruck und die Angst, es nicht wert zu sein, lasten schwer auf Alex. Hierbei gibt es auch den ein oder anderen kritischen Seitenhieb Richtung Industrie und Medien, doch noch draufhalten und nachtreten, wenn jemand am Boden liegt. Ja, Alex ist kein Sympathieträger, zumindest anfangs nicht. Er ist schwierig, er ist ungehobelt, er ist ein wandelndes Klischee. Aber in ihn steckt so viel mehr und es ist Indie, die das sieht und versucht, zum Vorschein zu bringen. Indie ist eine bewundernswerte junge Frau, die schwere Schicksalsschläge einstecken musste. Als Vollwaise lebt sie mit ihrem Bruder, dessen Frau und dem kranken Baby zusammen. Geld ist knapp, der Bruder in Alkohol und Verzweiflung abgestürzt und das kranke Baby kann nicht angemessen medizinisch versorgt werden. Dennoch verliert Indie nie den Mut, sie kämpft für ihre Lieben. Sie gibt Alex nicht direkt auf, auch wenn er ihr das Leben wahrhaftig zur Hölle macht. Zugleich weiß Indie aber auch, für sich selbst einzustehen, was vor allem im letzten Drittel des Buches eine große Rolle spielt. Die beiden sind zusammen ein perfektes Wirrwarr, die wahrgewordene Gefühlsachterbahn, manchmal Feuer und Öl und manchmal Feuer und Wasser. Die Chemie stimmt zwischen den beiden und auch die sexuelle Anziehung ist greifbar. Auch wenn Alex für das ein oder andere Gefühlsschleudertrama sorgt, da er permanent Indie angräbt, sie dann aber ganz weit von sich stößt, ist sie es, die sich als sein Ruhepol entpuppt, als seine Hoffnung – und als Quelle seiner Inspiration. Die gemeinsamen Schreibsessions um Mitternacht haben mich jedes Mal emotional mitgenommen.
Storytechnisch hat mich das Buch an vielen Stellen doch sehr überrascht. Die Autorin hat den ein oder anderen Plottwist eingebaut, den man nicht erwartet. Sie lässt die Charaktere hier ordentlich leiden und vieles erleben – sowohl positiv als auch negativ. Vor allem die negativen Momente sind die, die einem direkt ins Herz gehen. So gibt es eine unglaublich emotionale Szene, die Alex und seine Gitarre betrifft, und eine schockierende Enthüllung, die Indies Welt zusammenbrechen lässt. L. J. Shen erlaubt ihren Charakteren, Fehler zu machen, aber auch, sich zu entwickeln. So fand ich vor allem Alex‘ Entwicklung bemerkenswert. Der Weg ist dabei aber realistisch steinig und schwer und nicht immer gradlinig. Sehr begeistert hat mich auch, dass die dramaturgischen Elemente hier an den meisten Stellen doch eher untypisch waren und nicht die klassischen 0815-Twists, die zu Drama führen.
Einzig und allein der Epilog hat für mich das Buch etwas versaut. Er hat nicht gepasst, nicht zu Alex und Indie, nicht zu dem Buch, nicht zu der Autorin und dennoch hat sie das Ende so gewählt. Ich muss es akzeptieren, aber nicht mögen. Deswegen endet für mich das Buch mit der Seite vor dem Epilog. Denn bis dahin war es für mich ein wundervolles, überraschend tiefgründiges, bedrückendes und ergreifendes Buch, was mich zum Lachen, zum Weinen, zum Hoffen und zum Verzweifeln gebracht hat.
Midnight Blue ist definitiv eines meiner Highlights 2019 und vor allem ein echtes Überraschungsbuch. Es bietet so viel mehr, als man erwartet, so viel mehr Tiefe und Emotionen als ich je erhofft hatte, mit zwei unglaublich starken, kaputten Protagonisten in einer Welt, die ihnen nicht so ganz gefällt. Indie und Alex haben mich gefesselt und nicht wieder losgelassen. Absolute Leseempfehlung!
[Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag überlassen wurde. Meine Meinung ist hiervon nicht beeinflusst.]