Ein berührender Roman
INHALT
Ein idyllisches Bergdorf in Südtirol – doch die Zeiten sind hart. Von 1939 bis 1943 werden die Leute vor die Wahl gestellt: entweder nach Deutschland auszuwandern oder als Bürger zweiter Klasse ...
INHALT
Ein idyllisches Bergdorf in Südtirol – doch die Zeiten sind hart. Von 1939 bis 1943 werden die Leute vor die Wahl gestellt: entweder nach Deutschland auszuwandern oder als Bürger zweiter Klasse in Italien zu bleiben. Trina entscheidet sich für ihr Dorf, ihr Zuhause. Als die Faschisten ihr verbieten, als Lehrerin tätig zu sein, unterrichtet sie heimlich in Kellern und Scheunen. Und als ein Energiekonzern für einen Stausee Felder und Häuser überfluten will, leistet sie Widerstand – mit Leib und Seele.
(Quelle: Diogenes)
MEINE MEINUNG
In seinem neuen Roman „Ich bleibe hier“ greift der italienische Autor Marco Balzano ein dunkles Kapitel aus der bewegten Vergangenheit Südtirols auf und widmet sich der berührenden Geschichte des kleinen Südtiroler Bergbauerndorfs Graun und seinem traurigen Schicksal im Wandel der Zeiten und als Spielball der politischen Interessen.
Balzano erzählt zugleich aber auch eine berührende Geschichte über Heimatverbundenheit, Entwurzelung, Verlusten, Leid, Widerstand und Tapferkeit.
Angesiedelt ist die vielschichtige Handlung im Vinschgau zwischen den 1930er bis in die frühen 1950er Jahre. Rückblickend berichtet die Ich-Erzählerin und Protagonistin Trina über ihr ereignisreiches Leben, erzählt von ihren geplatzten Zukunftsträumen, ihrem nur kurzen Familienglück und durchleidet erneut viele für sie sehr schmerzliche Erlebnisse. Im nüchternen, sehr emotionsarmen Stil einer Chronistin hat Trina ihre Familiengeschichte für ihre verschwundene Tochter zu Papier gebracht und lässt uns an dem kargen, entbehrungsreichen Leben im deutschsprachigen Vinschgau jener Zeit teilhaben. Schon bald hat mich die außerordentlich dichte und bedrückende Atmosphäre von Trinas Erinnerungen gefangen genommen und gefesselt. Oftmals schwingt beim Lesen der sachlichen Schilderungen ihrer bedrückenden Lebensgeschichte die Frage mit, wie viel Desillusionierung, Unglück und Leid ein Mensch in seinem Leben überhaupt ertragen kann und was ihn weiterleben lässt. Mit Trina hat der Autor eine überaus tiefgründige, sehr authentische Figur geschaffen, die mich sehr beeindruckt hat. Ausführlich protokolliert sie aber auch viele dramatische Ereignisse im Verlauf der bewegten Zeiten, die die Geschicke des Dorfs bedroht und das Leben seiner Bewohner sehr einschneidend bestimmt haben.
Gekonnt greift Balzano in seinem Roman eine wenig bekannte Seite in der jüngeren Geschichte Südtirols auf, das mit dem italienischen Faschismus und dem nahtlos nachfolgenden Nationalsozialismus gleich von zwei totalitären Diktaturen heimgesucht wurde. Zudem schwebte immer wieder das Damoklesschwert eines unheilvollen Staudammprojekts über der Zukunft des Tales und drohte ihre Heimat zu vernichten. Gekonnt lässt Balzano die sorgsam recherchierten historischen Abläufe in die persönliche Geschichte von Trinas Familie einfließen.
Äußerst bewegend ist es daher aus Trinas Sicht mitzuerleben, wie eine radikale Italienisierung unter Mussolini und die forcierte Siedlungspolitik die einheimische Bevölkerung unter Druck setzte und in verfeindete Lager gespaltete. Das Verbot der deutschen Amtssprache wurde von den Faschisten gezielt als perfides Mittel der Unterdrückung eingesetzt. Verschärft wurde ihre Lage noch durch ein zwischen Mussolini und Hitler geschlossenes Abkommen zur Umsiedlung der Südtiroler, wodurch sie sich für die deutsche Staatbürgerschaft und Auswanderung ins Deutsche Reich entscheiden mussten oder beim Bleiben in ihrer Heimat mit der italienischen Staatsbürgerschaft auch ihre Kultur und Sprache aufzugeben hatten. Auch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bringt für die Familie von Trina und Erich weitere Herausforderungen und folgenschwere Entscheidungen mit sich. Als nach Kriegsende schließlich das Staudammprojekt trotz massiver Proteste rücksichtslos realisiert wird, wird die Heimat vieler alteingesessener Familien dem sinnlosen Fortschritt geopfert und ein Stück Kulturlandschaft unwiederbringlich zerstört.
Als ein Meister der leisen Töne versteht es Marco Balzano hervorragend, die Emotionen und Gedankenwelt seiner Hauptfiguren einzufangen und die erlebte Tragödie aus Perspektive der Einheimischen glaubhaft darzustellen. Ihre schmerzlichen Wunden und ihr bewegendes Schicksal, das man stellvertretend für das reale Leid der Menschen in jener Zeit miterlebt, entfalten eine außerordentliche Kraft aus sich heraus und stimmen sehr nachdenklich.
Die Geschichte Grauns und das vielfältige Schicksal der Einheimischen gehen unter die Haut und werden mich die Touristenattraktion mit dem pittoresken Kirchturm im Reschen-See zukünftig mit beklommenen Gefühlen betrachten lassen. In den Anmerkungen des Autors geht Balzano ausführlich auf seine Beweggründe diesen Roman zu schreiben ein und erläutert zudem seine vielfältigen Recherchen zu den Hintergründen und Anspielungen auf einige historische Persönlichkeiten. Zur besseren Einordnung und Orientierung findet sich auf den Vorsatzblätter zudem einen hübsch illustrierte Landkartenausschnitt, der man die Lage des Vinschgauer Gebiets und die wichtigsten Orte entnehmen kann.
FAZIT
Eine berührende, großartig erzählte Geschichte über das Schicksal des kleinen Südtiroler Bergbauerndorfs Graun, die die Erinnerung an ein unrühmliches Kapitel in der jüngeren Geschichte Italiens wach halten möchte!