Der britische Autor Matt Haig stellt seinem vielgepriesenen, mit Lobeshymnen geradezu überschütteten, 2020 erstveröffentlichtem Roman „The Midnight Library“ (deutscher Titel „Die Mitternachtsbibliothek“) ein Zitat der jung durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Literatin Sylvia Plath voran, in dem sie beklagt, niemals all die Menschen sein zu können, die sie möchte und die unterschiedlichsten Leben zu leben, dabei gleichzeitig alle nur wünschenswerten Fähigkeiten zu erlangen. Also bleibt ihr nur, das Leben in all seiner Vielfalt so intensiv und bewusst wie möglich auszukosten. Mit diesem so passenden Zitat fasst Matt Haig sowohl das Grundproblem seiner Protagonistin Nora Seed zusammen als auch dessen Lösung, zu der jene Nora, des Lebens gründlich müde, jeoch noch einen langen Weg auf genau 288 Seiten zurückzulegen hat.
Aber der Reihe nach! Durch äußere Umstände, aber auch aufgrund ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur, treibt Nora Sand durch ihr Leben. Zur Depression neigend sieht sie immer weniger Sinn, weiter auf dieser Erde zu verharren. Inzwischen Mitte Dreißig trauert sie verpassten Chancen nach, hält sich für eine Versagerin, die keine ihrer Möglichkeiten genutzt hat und die niemand braucht. Immer tiefer in ihre Depressionen abgleitend braucht es nur einen Anlass, um zu beschließen, die Welt für immer zu verlassen. Soweit, so gut! Nein, natürlich ist gar nichts gut! Aber es könnte gut werden, denn ab jetzt beginnt das Märchen, das dieser Roman strenggenommen ist – und Märchen haben doch zumeist ein Happy End, nicht wahr? Doch lassen wir uns überraschen!
Zunächst einmal landet Nora weder direkt im Himmel noch in der Hölle, sondern vielmehr in einer Art Fegefeuer, wie ich den Ort, an dem sie sich zu ihrem nicht geringen Erstaunen wiederfindet, nennen möchte. Der Autor hat einen Namen dafür: die Mitternachtsbibliothek! Und Nora ist nicht allein, denn da wartet Mrs. Elm auf sie, die freundliche Bibliothekarin aus Noras Schulzeit, die ihr einmal in einer schwierigen Situation zur Seite gestanden hatte – so, wie sie es auch jetzt wieder tut. Sie überreicht der fassungslosen Nora, die eigentlich nichts anderes wollte als zu verschwinden vom Antlitz der Erde, ein ungemein dickes Buch, in dem all das aufgezeichnet ist, von dem Nora meinte, es bereuen zu müssen. Ein Buch der verpassten Chancen könnte man es auch nennen. Mrs. Elm nun fordert Nora auf, die Einträge in diesem unseligen Buch, das zwischen ihr und dem Leben steht, zu löschen – indem sie die Leben lebt, gegen die sie sich zu den unterschiedlichsten Zeiten in der Vergangenheit entschieden hatte. Und wenn ihr eines dieser Leben gefiele, so könnte sie darin verweilen. Eine neue Chance – in vielleicht dem richtigen Leben?
Widerwillig lässt sich Nora darauf ein und erlebt Erstaunliches, doch immer wieder kehrt sie zurück in die Mitternachtsbibliothek, in er sie zwischen Leben und Tod schwebt, solange sie sich nicht für eines der Leben, die sie ausprobiert und die die ihren hätten sein können, hätte sie eine andere Wahl getroffen, entscheidet. Sie macht Sylvia Plaths Wunsch aus dem Zitat wahr, ist, mal für ganz kurze, mal für längere Zeit der Mensch, der auch in ihr schlummert, lebt als solcher ein Leben, das dieser, und nur dieser, leben konnte. Doch was machen all diese Erfahrungen mit ihr, die sie als Wanderin zwischen den Welten sammelt? Vor allen Dingen staunt sie über das unermessliche Potential, das in ihr zu schlummern scheint und das sie niemals in sich vermutet hätte. Doch was sie sucht, das hat sie nicht gefunden, noch nicht, in so viele mögliche Leben sie auch hineingeschlüpft ist. Immer war da etwas, das sie zwang, in die Mitternachtsbibliothek zurückzukehren. Das Buch aber, das dicke Buch, in dem all die Dinge aufgeschrieben waren, die sie bereute, beklagte und bejammerte und quasi abarbeitete, wird immer dünner, immer leichter – und im gleichen Maße wird Noras Lebenslicht schwächer, der Tod nähert sich mit großen Schritten. Mrs. Elm drängt auf eine Entscheidung!
Der Leser mag ahnen, wie diese aussehen könnte, vielleicht kommt sie auch unerwartet, wird überraschen, denn leicht kann diese Entscheidung nicht sein, schließlich hatte Nora sich selbst als erfolgreichen und bejubelten Rockstar erlebt, als Weltklasseschwimmerin, als Gletscherforscherin in Spitzbergen, Auge in Auge mit einem angriffslustigen Eisbär, und schließlich auch als glückliche Ehefrau eines liebenswerten Mannes und Mutter einer überaus entzückenden Tochter. Auf all diesen 'Reisen' ist der Lebensmüden aber noch etwas ganz anderes klargeworden, sie hat, wenn man so möchte, tief, ganz tief geblickt, hat verstanden, oder besser, mehr als nur eine Ahnung, worum es wirklich geht im Leben. Wünschen wir ihr also, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat!
„The Midnight Library“ ist gewiss im Prinzip eine kluge, eine tiefsinnige Geschichte. In diesem Punkt gehe ich konform mit den so vielen, überschwänglich positiven Kritiken. Und ja, die Geschichte erinnert an den Klassiker „It's a Wonderful Life', der allweihnachtlich über die Bildschirme nicht nur in Deutschland flimmert und der gar manchen Zuschauer immer wieder aufs Neue zu Tränen rührt. In einem, einem wichtigen, dem wichtigsten Punkt jedoch unterscheidet sich der hier zu besprechende Roman von dem ohne Einschränkungen bezaubernden Film – eine zu Herzen gehende Geschichte, voller Wärme und dem Zauber, der einen Neuanfang suggeriert und glaubwürdig macht, ist Matt Haigs Roman nicht! Leidet man mit dem verzweifelten, inständig um sein altes Leben bittenden James Stewart aus voller Seele mit, so lässt einen Nora Seed weitgehend kalt – obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben habe, mich in sie hineinzuversetzen, wirklich zu verstehen, was sie umtreibt. Sie ist gesichtslos geblieben, ihr wurde nicht das Leben eingehaucht, das James Stewart so überzeugend seinem altruistischen George Bailey verleihen konnte. Nora Seed ist dauerhaft larmoyant, lässt die Menschen hängen, versteckt sich in sich selbst. Und alles kann man eben nicht ihrer depressiven Veranlagung zuschreiben!
Die Idee einer Bibliothek, eben jene titelgebende Mitternachtsbibliothek als Purgatorium, hat mir gut gefallen, die ständig kryptischen Sätze der eigentlich sympathischen Louise Elm jedoch weniger. Ich habe schlicht und einfach nicht verstanden, was ihre ewigen Andeutungen, die der Autor sie hervorbringen lässt und die sie als sonnenklar anzusehen scheint, bedeuten sollen. Das tut Nora übrigens auch nicht, ohne dass Mrs. Elm tüchtig nachhelfen muss. Auch das Ende bleibt unter meinen Erwartungen, zumal es irgendwie abgehakt erscheint, wenn man es mit vielen, sehr ausführlichen vorangegangenen Szenen vergleicht, die unnötig in die Länge gezogen sind.
Und zu guter Letzt – ein Märchen ist ein Märchen, mit Botschaften, gewiss, mit Einsichten, einer Moral oder allgemeingültiger Weisheit, wenn man es so nennen möchte. Was aber sagt uns dieses Romanmärchen? Dass das Leben unbegrenzte Möglichkeiten bietet, dass man immer wieder von vorne anfangen kann, man eine neue Chance nach der anderen bekommt? Das wäre dann aber scharf an der Realität vorbeigedacht! Unbegrenzte Möglichkeiten, Neuanfänge – all das muss man sich leisten können, dazu sollte man jung und ungebunden sein, niemanden haben, für den man verantwortlich ist. Setzt man sich über Verpflichtungen hinweg, die die meisten von uns haben, nur um die alte Haut abzustreifen und in immer wieder neue zu schlüpfen, wird es alsbald sehr einsam werden um uns herum! Das wäre die Art von Freiheit, die auf Kosten eines anderen geht.
Vielleicht aber möchte uns Matt Haig etwas ganz anderes mitteilen mit der Geschichte seiner nicht einmal mittelmäßigen Nora, nämlich dass man sich so annehmen sollte, wie man nun einmal ist, dass gemachte Fehler zum Leben dazugehören, dass man daraus lernen kann, anstatt sie in einer Schublade zu lagern und zu hüten, auf dass sie uns immer wieder an unser vermeintliches Versagen erinnern? Mit dieser Interpretation, die ich mit weit weniger Kritikern teile, könnte ich durchaus leben – da der Autor aber gleichzeitig für unbegrenzte Chancen auf einen Neuanfang zu plädieren scheint, lege ich sein Werk mit reichlich gemischten Gefühlen zur Seite – und schaue mir dafür lieber noch ein weiteres Mal den herzensguten, im Gegensatz zu der im Selbstmitleid ertrinkenden Nora Seed, überhaupt nicht egozentrischen George Bailey, alias James Stewart, im Fernsehen an! Und dies nicht nur zur Weihnachtszeit...