„Morgen wird alles anders“ ist ein toller Erzählband von Anna Gavalda, der 5 Geschichten enthält:
Mein Hund wird sterben (25 S.)
Mathilde (104 S.)
Meine Kraftpunkte (24 S.)
Yann (94 S.)
Minnesang (25 S.)
Jede davon schildert das heutige Leben in Paris. Die Menschen, ihre Lebenslage, ihre Vorgeschichte, ihre Probleme und ihre Entscheidungen sind wunderbar/gekonnt in Szene gesetzt worden. Nach den ersten Seiten ist man vollends verzaubert und man kann nur eins: weiterlesen.
Keineswegs ist alles Friede und Freude. Entweder sind es die weniger erfreulichen Lebensumstände der jüngeren Generation, die ihren Platz im Leben nicht findet, manchmal sind es die Realien der heutigen Welt, die jeweilige Erzähler zum Ausdruck bringen.
In „Mathilde“ hat man den Eindruck, man unterhält sich mit ihr. Sie erzählt, im typischen Sprech einer 24-Jährigen Göre, was sie arbeitet, wo sie wohnt und was ihr passiert ist: Sie hat ihre Tasche mit 10000 Euro, die ihr nicht gehören, verloren. Ihre Verzweiflung kann man mit Händen greifen. Aber nicht nur des Geldes wegen. Sie denkt über ihr Leben nach, über die Perspektivenlosigkeit ihres Daseins, uvm.
„Yann“ ist ein 26-Jähriger Bretone, der trotz des teuren Designerstudiums nur einen Handelsvertreterjob in einer koreanischen Firma, dafür aber unbefristet, welch Ironie, ergattern konnte. Er lebt mit seiner spießigen Freundin in der Wohnung ihrer Tante in einem besseren Viertel von Paris. Scheinbar ist alles so, wie es sein soll. Aber eines Tages lernt Yann seine Nachbarn kennen und versteht, was das Leben lebenswert macht. „Aber, Yann… Junger Freund…“, sagt u.a. sein Nachbar, „Menschen, die man liebt, trifft man nicht, die erkennt man. Wussten Sie das nicht?“ Nach dieser Nacht mit viel gutem Wein und herzerwärmenden Gesprächen begreift Yann, was ihm fehlt, und trifft seine Entscheidung.
In der ersten Erzählung versucht ein Ehepaar mittleren Alters den Tod ihres Kindes zu verarbeiten, der schon eine Weile zurückliegt. Die Geschichte, wie die anderen auch, ist so eindringlich erzählt, dass ich sie erst nach Mathilde zu Ende lesen konnte.
„Meine Kraftpunkte“ erfährt man aus der Sicht des Vaters von drei Söhnen. Die Geschichte dreht sich um den jüngsten Sohn, den sechsjährigen Valentin. Der Vater muss dringend in die Schule, weil Valentin etwas angestellt hatte. Der Vater wundert sich, denn sein Valentin ist ein ruhiges und ganz liebes Kind. Die Geschichte muss man einfach selbst lesen. Manches geht gleich unter die Haut. Man wünscht sich so einen Vater, der nicht nur sein Vaterdasein und seine Kinder liebt, sondern auch so gut erzählen kann. So rührend und herzergreifend ist der Schluss!
„Minnesang“ ist ein würdiger Abschluss des Bandes. Da trifft man auf einen Dichter, einen jungen Mann, der wie die Minnesänger im Mittelalter Gedichte zur Lobpreisung der holden Magd aus dem Stehgreif dichten kann. Erzählt ist „Minnesang“ aus der Sicht der jungen Frau, die diesen Dichter auf einer Party der besseren Kreise kennenlernt.
Der Schreibstil von Anna Gavalda ist so wohltuend eigen und authentisch (Bei „Blindverkostung“ hätte ich gleich auf sie getippt), dass der Band auch deshalb viel Lesevergnügen bereitet.
Schön atmosphärisch sind die Geschichten. Man fühlt sich nach Paris unter diese Menschen versetzt. Witz und Leichtigkeit gehen Hand in Hand mit guter Portion Gesellschaftskritik. Die Autorin hält der Welt Spiegel vors Gesicht und macht so die Missstände sichtbar.
Das Coverbild mutete zunächst melancholisch an, aber so ist es nicht: die Geschichten sind facettenreich und farbenfroh.
Fast bei jedem ändert sich das Status Quo. Nichts ist mehr, wie es früher war. Deshalb ist der Titel sehr passend.
Fazit: Das Buch war für mich ein wahres Lesehighlight: Es hat mir viel Vergnügen bereitet, diese Menschen und ihre Geschichten, die man nicht so schnell vergisst, kennenzulernen. 5 Sterne und eine klare Leseempfehlung!