Es handelt sich bei diesem Kriminalroman um einen sicher außergewöhnlichen Krimi, der von Anne Meredith (ein Pseudonym) bereits 1933 in England veröffentlicht wurde. Der geneigte Krimileser sollte seine "Maßstäbe" etwas dem klassischen Kriminalroman anpassen, dann wird er seine helle (Weihnachts-)Freude am "Geheimnis der Grays" haben:
England 1931:
Wie jedes Jahr lädt Adrian Gray seine 6 Kinder samt Anhang in sein Herrenhaus (King's Poplar) ein, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Keines seiner Kinder ist ihm wohlgesonnen, was allem Anschein nach auf Gegenseitigkeit beruht. Er sollte nicht wissen, dass dies sein letztes Weihnachtsfest werden sollte: Adrian Gray lag ermordet am frühen Morgen des 1. Weihnachtsfeiertages in der Bibliothek. Welches seiner Kinder hatte sich wohl seinen Weihnachtswunsch selbst erfüllt?
Nach kurzer Zeit bereits wird klar, wer der Mörder ist, was m.E. jedoch dem weiteren Verlauf des Krimis in der Tradition von Agatha Christie keinen Abbruch tut: Wir lernen die "werte" Familie Gray kennen: Richard, der älteste Sohn (karrierebewusst, arrogant, nicht ohne Grund in finanziellen Turbulenzen) und seine Frau; Amy, die älteste Tochter Adrian Grays, die ihm den Haushalt führt, Olivia, eine weitere Tochter, die mit Eustace Moore verheiratet ist, einem Winkeladvokaten, wie er im Buche steht und Financier des alten Gray; Isobel, eine weitere Tochter, die nach unglücklicher Ehe ins Haus des Vaters zurückkehrte; Ruth, die mit Miles verheiratet ist, einem Anwalt, dessen Karriere mangels Ehrgeiz bereits früh kränkelte, der jedoch mit Ruth und den Kindern sehr glücklich scheint - und Hildebrand, genannt Brand, der seit Kindesbeinen schwierig, auffallend, verschlossen und das schwarze Schaf der Familie ist: Ein Künstler, der sich nach Paris absetzte, nachdem die Familie ihn ausgestoßen hatte und eine Frau mit zweifelhaftem Ruf heiratete... Der jedoch aus finanziellen Gründen nach King's Poplar zurückkehrt zu Weihnachten, um dem alten Herrn etwas Geld aus dem Rücken zu leiern - wie alle anderen auch: Was keiner weiß: Adrian Gray hatte sich verspekuliert und stand seinerseits vor dem finanziellen Ruin...
Die Stärke des Krimis besteht darin, wie subtil und auch in die Tiefe gehend die Hintergründe jedes einzelnen Familienmitglieds wie auch des Mörders im Besonderen beschrieben sind: Die Gefühle, die in dem Gewaltverübenden wohnen und in ihm toben; wie eiskalt er gedanklich (und in der Tat) von sich abzulenken weiß, um ungeschoren davonzukommen; andere Familienmitglieder zu belasten, was ihm überzeugend gelingt...
Die Kriminalpolizei wird eingeschaltet und Ross Murray, selbst ein Ziehsohn eines Lords, erkennt sofort die Probleme und schwierigen Beziehungen der Grays untereinander: Die Zeiten sind hart, auch für begüterte Menschen, für Spekulanten jedoch verheerend - zudem ist ein gesellschaftlicher Wandel im Gange, der besonders in England die Vormachtstellung der Lords und Großgrundbesitzer nach und nach schwinden ließ... Hier steckt auch ein wenig Gesellschaftskritik, die interessant zu lesen ist. Abgeführt und inhaftiert wird dennoch der Falsche - und unserem Mörder gelingt es erst einmal, sich abzusetzen. Doch es gibt ein anderes (kluges) Familienmitglied, dem die "Fakten" keine Ruhe lassen, die ihm zu Ohren kommen und die dem Mörder in die Hände spielten....
So ist der Schluss sehr tragisch, aber auch durchaus stimmig. Mir hat die nostalgisch-psychologische Erzählweise der Autorin sehr gtefallen; wenn auch der Mordfall schnell offengelegt wurde, lag die Spannung in den Reaktionen und Handlungen der übrigen Familienmitglieder, die zugegebenermaßen allesamt ausser einem mit nicht vielen Sympathiepunkten ausgestattet sind: Jeder ist auf seinen Vorteil bedacht und hat Angst, etwas Falsches bei den Aussagen zu erwähnen...
Das aufschlussreiche Nachwort von Martin Edwards über die Autorin Lucy Beatrice Malleson (1899-1973), die unter einigen Pseudonymen schrieb - hier Anne Meredith - fand ich sehr interessant, da ihre Kriminalromane lange in Vergessenheit gerieten, bis der Klett-Cotta-Veralg ihn erstmals in deutscher Sprache wieder an die Oberfläche holte. Er ist in der rauen Sprache des Winters und auch des Umgangs der Familie Gray untereinander verfasst, in der niemand niemandem traut.
Fazit:
Ein unterhaltsamer, nostalgischer Klassiker, der mit viel psychologischer Finesse auftritt, wohingegen die Spannung "wie gewohnt" sich hintanzustellen hat: Dennoch lesenswert, da er auch einen Teil einer untergegangenen Epoche beschreibt. Dem geneigten Leser empfehle ich ihn sehr gerne weiter und vergebe 4* am klassischen Krimihimmel und 88° auf der "Krimi-Couch".