Meiner Besprechung des vierten und letzten Bandes um „Die Schwestern vom Ku'damm“ möchte ich ein Zitat von Friedrich Nietzsche voranstellen.
„Gut lesen, das heißt langsam, tief-, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen, mit zarten Fingern und Augen lesen“
Und, so füge ich hinzu, man muss ein Buch wie dieses mit dem Herzen lesen, muss sich einfühlen in die Figuren, um sie in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu begreifen. Und dann geschieht mitunter etwas, das nur wirklich gute Bücher vermögen: die fiktiven Gestalten bekommen nicht nur Gesichter, sondern werden real, steigen aus ihren Geschichten heraus, werden gleichsam zu lieben Bekannten, zu Freunden gar, begleiten ihre Leser durch ihren Alltag und bleiben auch noch lange nach beendeter Lektüre bei ihnen.
„Ein neuer Morgen“ ist Miriam gewidmet, inzwischen Chefdesignerin im familieneigenen Modekaufhaus, auch sie eine der Thalheim Schwestern, der Beziehung Friedrich Thalheims mit der begabten Jüdin Ruth Sternheim entstammend, erst spät von dem eigenwilligen und, so wie ich ihn kennengelernt habe, schwierigen und kantigen Patriarchen als leibliche Tochter anerkannt – mit Freuden, so muss man freilich anerkennen! Und so gehören weite Teile von Miriams Geschichte ganz ihr, haben keine Überschneidungen mit der Familiengeschichte, die die drei anderen Töchter teilen, und werden dem Leser, der die Vorgängerbände kennt, erst jetzt, in Miriams Geschichte, enthüllt. Und was er da erfährt über die stille, freundliche Miriam mit der außergewöhnlichen, von der Mutter geerbten, Begabung für Mode und deren Erschaffen, ist erschütternd und wahrhaft berührend! Miri nämlich, inzwischen längst glücklich mit dem liebenswürdigen österreichischen Gastronomen Schani verheiratet, der ihretwegen zum Judentum übergetreten ist, Adoptivmutter der mittlerweile heftig pubertierenden Jenny und leibliche Mutter der kleinen Lilly, die so unvermutet ins Leben ihrer nicht mehr jungen Eltern geschneit ist und für einigen Wirbel in der nun vierköpfigen Familie sorgt, lebte in den letzten drei Kriegsjahren nach der Verhaftung und Ermordung ihrer Mutter im Berliner Untergrund, immer in Todesangst vor den Nazi-Häschern, ständig auf der Hut, hatte aber das Glück, immer wieder mutigen und anständigen Menschen zu begegnen, die ihr halfen, die sie versteckten und ihr damit das Leben retteten.
Miris Rückblenden durchziehen den gesamten Roman – und dass sie nun, mehr als zwanzig Jahre später, bereit ist, über das, was sie durchleben und durchleiden musste, zu sprechen und damit unbewusst genau das tat, was man heute als Traumabewältigung bezeichnet, mag mehrere Ursachen haben. Für uns Leser aber sind Miris Erzählungen – Streiflichtern gleich -, mit denen sie uns auf eine Reise mitnimmt in die Vergangenheit, in die dunkelste Epoche der jüngeren deutschen Geschichte, immer einen Anlass habend, der Erinnerungen aufkommen lässt, die unbedingt ans Licht des Tages wollen, wichtig, um die vielleicht sympathischste und bescheidenste der Thalheim Schwestern in all ihren Facetten kennenzulernen. In dem Maße, wie Miri diese unbekannten Jahre ihres Lebens aus dem Dunkel des Vergessens, oder besser des Verschließens, ans Licht kommen lässt, wie die schmerzvollen Erinnerungen endlich selbst mit Macht nach draußen drängen, nähert sich die Vergangenheit der Gegenwart an, verknüpft sich schließlich mit ihr und gibt ein Gesamtbild von Miriam. Wer da meint, er könne die Vergangenheit abstreifen wie einen alten Handschuh, unterliegt einem Trugschluss. Alles was Miriam – und das gilt für jeden von uns – in ihrem Leben erlebt hat, das Gute wie das Böse, hat sie geprägt, sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute ist und in der Zukunft sein wird.
Dankbar ist man als Leser stets aufs Neue für die Atempausen, die uns gewährt werden, wenn Miri aus ihren die Seele berührenden Erinnerungen wieder ins Hier und Heute zurückkehrt, das gerade für sie seine ganz eigenen Herausforderungen bereithält und in dem sich unverhofft Dinge ereignen, die gar ihr bisheriges Leben, ihre Beziehung zu Schani in Frage zu stellen drohen, in dem es gilt, einen kühlen Kopf zu bewahren und kluge Entscheidungen zu treffen, für sich selbst und für die Ihren.
Ja, es ist Miris Geschichte, die wir in diesem mitreißenden Buch erfahren, aber fast von Beginn an sind auch die übrigen Thalheims und die ihnen Zugehörigen mit an Bord, die man so gut kennengelernt hat in den ersten drei Bänden, allen voran die drei Schwestern, Protagonistinnen ihrer jeweils eigenen Geschichten: die vernünftige Rieke, einstmals Retterin des Modekaufhauses Thalheim, das nunmehr, im Jahre 1965, kaum wiederzuerkennen ist und sein Gesicht bis zum Jahr 1972, das das Ende der Saga darstellt, noch mehrere Male ändern wird, immer mit der Zeit gehend, um konkurrenzfähig zu bleiben. Silvie, die ehemalige Rundfunksprecherin, die mittlerweile mit Begeisterung und Kreativität ihre Buchhandlung führt und schließlich die Künstlerin und Nonkonformistin Flori, das Nesthäkchen der Thalheims. Sie haben sich weiterentwickelt, sind natürlich älter geworden, ihre eigenen Kinder wachsen heran, ihrerseits bald bereit, den Sprung ins Leben zu wagen, voller Selbstbewusstsein und Neugierde auf das, was dieses für sie bereit halten mag.
Gerade in den 60er Jahren tut sich viel, finden allenthalben Veränderungen statt; die meisten Thalheims gehen mit, bleiben nicht dem Gestern verhaftet, stellen sich den neuen Herausforderungen. Alle bis auf Friedrich Thalheim, was niemanden, der ihm in den Vorgängerbänden begegnet ist, verwundert. Ewig gestrig, ewig skeptisch macht ihn das Neue, das da auf ihn zurollt, Angst; er ist gefangen in sich selbst, ein Konservativer vom Scheitel bis zur Sohle. Und auch wenn er milder geworden ist, sentimentaler, wie das bei alten Menschen oft der Fall ist, sind einige seiner Entscheidungen schlicht und einfach töricht, wie der Leser ein wenig konsterniert feststellen wird. Für Überraschungen war er halt schon immer gut, der eigenmächtige Patriarch seiner immer zahlreicher werdenden Familie!
Und zum Schluss meiner Gedanken noch einige Anmerkungen zu der zweiten Hälfte der 60er Jahre, in der die Handlung des Miriam gewidmeten Bandes vorwiegend angesiedelt ist, gleichzeitig des Bandes, der für mich der wohl wichtigste des Vierteilers ist, sind diese Jahre doch Teil meiner eigenen Geschichte, meines eigenen Erwachsenwerdens, bewusst selbst erlebt, als Zeitzeugin, wenn man so möchte. Mit dem Aufblühen der 68er-Bewegung, der APO und ihrer Galionsfiguren machte sich eine junge, respektlose und idealistische Generation daran, aufzuräumen mit dem Filz und Muff der vergangenen Jahrzehnte. Dazu gehörte ein Sichauflehnen, lautstarke Demonstrationen mit rhetorisch brillanten Wortführern. Einige fatale Auswüchse waren nicht unbedingt vorhersehbar oder wurden zu lange nicht ernst genommen und waren ganz sicher so, wie sie sich dann manifestierten, nicht gewollt, nicht im Sinne der Erneuerer. Indem Brigitte Riebe wichtige, inzwischen bereits historische Ereignisse wie den alles ins Rollen bringenden, stark umstrittenen Schah-Besuch in Berlin in ihre Geschichte einbaut, verleiht sie dem Roman eine überzeugende Authentizität. Und trotz der fiktiven Handlung erscheint mir keines der vier Bücher um die Thalheim Schwestern so nahe an der Realität, so echt, so fassbar, wie dieses hier, das ich in all seiner Buntheit und Vielfalt, mit seinen größeren und kleineren Begebenheiten und mitsamt auch des kleinsten, aber immer fein gezeichneten Nebencharakters ganz sicher lange, lange im Gedächtnis bewahren werde.
Mit „Ein neuer Morgen“ ist die Ku'damm-Saga nun abgeschlossen. Und das ist in Ordnung, denn es ist folgerichtig. Brigitte Riebe hat die Weisheit beherzigt, dann aufzuhören, wenn es am schönsten ist und überlässt ihre Charaktere und deren künftiges Schicksal nun der Phantasie des Lesers. Die Thalheim Schwestern und ihre Kinder sind auf einem guten Weg, stark genug, das Leben mit all seinen Herausforderungen und Unwägbarkeiten zu meistern, dabei auch mal durch Talsohlen zu gehen, denn auch diese gehören zum Leben. Die Generationen, die da nachfolgen, tragen das Erbe derer in sich, die vor ihnen waren, auch lange vor ihnen, die aber, so bleibt zu hoffen, in ihrer Erinnerung weiterleben werden – so wie Ruth Sternberg in Miriam, um unserer wunderbaren Hauptperson meinen Schlussgedanken zu widmen!