Stilistisch gelungene Reise durch eine Familie
Dschinns zog mich umgehend durch den ungewöhnlichen Schreibstil in meinen Bann. Hüseyin, das erste Familienmitglied, das wir in diesem Buch über eine türkische Familie kennenlernen, wird direkt angesprochen ...
Dschinns zog mich umgehend durch den ungewöhnlichen Schreibstil in meinen Bann. Hüseyin, das erste Familienmitglied, das wir in diesem Buch über eine türkische Familie kennenlernen, wird direkt angesprochen und so erleben wir ihn, in dem Monolog, den jemand – ein Dschinn – mit ihm hält. Während Hüseyin voller Freude die neue Wohnung erkundet, die er für sich und seine Familie in Istanbul gekauft hat, erfahren wir in stetigem Wechsel von Gegenwart und Vergangenheit einiges aus seinem Leben, z.B. den Jahrzehnten harter Arbeit in Deutschland oder den Angehörigen. Es macht neugierig, während der farbige Schreibstil die Szenerie aufsteigen lässt und ich schon glaubte, neben Hüseyin in der Wohnung zu stehen.
Jedes der sechs Kapitel widmet sich einem anderen Mitglied dieser Familie, bringt die Gegenwartshandlung voran und nimmt uns gleichzeitig mit in die Vergangenheit. Nach und nach erfahren wir so immer mehr über die Familienmitglieder, ihre Beziehungen zueinander und ihre Dschinns – wie man diese nun interpretieren mag. Im Buch selbst gibt es einige Ansätze dazu, ob nun unausgesprochene Wahrheiten, die Lasten der Vergangenheit oder eine Mischung aus vielem. Jedes Familienmitglied hat jedenfalls seine ganz persönliche Last zu tragen und diese wird uns enthüllt. Die Erzählsprache wechselt je nach Kapitel, passt sich dem jeweiligen Charakter an. Das ist gut gelungen, allerdings wurde durch diese Methode die Sprache in einem Kapitel so vulgär, abgehackt und hektisch, dass sie zwar dem Charakter entsprach, aber unangenehm zu lesen war. Insgesamt aber ist der Schreibstil – abgesehen von der zu häufigen Verwendung von Eigennamen anstelle von sie/er – eine Freude und sticht positiv heraus.
Da jedes Kapitel aus dem persönlichen Blickwinkel des jeweiligen Protagonisten geschrieben ist, erhalten wir sowohl dessen Eigensicht wie auch die Sicht von außen, also den anderen Familienmitgliedern. Das ist ausgezeichnet gemacht und beleuchtete manche Geschehnisse noch auf ganz neue Weise. Das ganze Buch war wie eine Entdeckungsreise durch die Familie – eine überwiegend traurige Entdeckungsreise, denn diese Familie ist alles andere als glücklich. Uns begegnet eine Vielzahl an Schicksalen, für meinen Geschmack waren es zu viele, gerade bei einem Familienmitglied häufte sich eins auf das andere, bis die Katastrophen-Kulmination letztlich die Gesamtwirkung eher schwächte. Auch das Ende setzt eins auf das andere, bis es einfach zu viel wird. Es gab einen Moment mit einer Enthüllung, der für mich ein perfektes Ende gewesen wäre und mich tief berührt hat. Darauf wurden dann aber noch gleich drei weitere Dinge draufgesetzt und so war mein letzter Eindruck des Buches leider: „Viel zu überzogen.“ Es ist insgesamt doch etwas unglaubwürdig, was in einer Familie alles zusammenkommt, leider gerieten dadurch auch einige interessante Themen (z.B. die kurdische Herkunft der Familie) in den Hintergrund, einige Fragen wurden für mich nicht hinreichend beantwortet, während andere Themen eher dem momentanen Zeitgeist geschuldet scheinen und zur Geschichte nichts Relevantes beitrugen, sondern eher irritierten. Bedauerlich finde ich auch, dass sowohl bei manchen Charakteren als auch manchen Erlebnissen und Äußerungen tief in die Klischeekiste gegriffen wurde. Hier habe ich oft gedacht, dass viele Möglichkeiten verschenkt wurden.
Dschinns ist in jedem Fall ein ungewöhnliches und vielseitiges Buch, das mir zudem einen aufschlussreichen Blick in das Leben einer türkischen Familie bot. Mit weniger Klischees und weniger Übertreibungen wäre dieser Blick eindringlicher und nachdrücklicher gewesen, aber auch so war es ein Leseerlebnis.