2019 Island. Die 34-jährige Tischlerin Sofie Berger befindet sich nach Jobverlust und einem Schicksalsschlag in einer Beziehungskrise, die sie dazu nutzt, ein Work & Travel-Angebot anzunehmen, um in Island nicht nur ein Haus zu renovieren, sondern auch eine Auszeit zu nehmen, damit sie ihre Gedanken ordnen kann. Schon kurz nach ihrer Ankunft in dem renovierungsbedürftigen Haus macht sie nicht nur die Bekanntschaft mit dem attraktiven, wenn auch mundfaulen Isländer Björkvin, der mit ihr eine unfreiwillige WG eingeht, sondern sie findet in einem antiken Schreibtisch ein altes Tagebuch, das für einen Hannes bestimmt ist. Darin berichtet die deutsche jüdische Kaufmannstochter Luise ab 1936 von ihrem Leben in Lüneburg, den immer schlimmer werdenden Repressalien durch die Nazis und die große Liebe zu dem Freund ihres Bruders Heini, dem Isländer Jónas. Die Geschichte von Luise hält Sofie dermaßen gefangen, dass sie entschlossen ist, den Erben des Tagebuchs zu finden…
Karin Baldvinsson hat mit „Das Mädchen im Nordwind“ einen sehr unterhaltsamen und berührenden Roman vorgelegt, der den Leser nicht nur auf eine Zeitreise in das düsterste Kapitel deutscher Geschichte schickt, sondern auch mit zwei Liebesgeschichten zu punkten weiß. Der flüssig-leichte, farbenfrohe und gefühlvolle Erzählstil schlägt den Leser sofort in seinen Bann und fesselt ihn bis zum finalen Schluss. Wechselnde Zeitebenen ermöglichen es dem Leser, mal die Gegenwart um Sofie mitzuerleben und Island zu erkunden, mal die Vergangenheit durch die Augen von Luise zu sehen. Die Diskrepanz zwischen den beiden Zeitebenen ist gewaltig. Während Sofie aus freien Stücken nach Island kommt, um dort zu arbeiten und Land und Leute kennenzulernen, bleibt Luise nichts anderes übrig, als vor den Nazis zu fliehen und ihr ungeborenes Kind in Sicherheit zu bringen, während sie ihre Eltern in einem Judenhassenden Deutschland zurücklassen muss. Gleichsam tragen beide Frauen an ihrem Schicksal und versuchen alles, um eine neue Zukunft zu haben. Die Autorin hat die beiden Handlungsstränge wunderbar miteinander verwoben, so dass der Leser sich kaum von der Geschichte lösen kann. Der Spannungslevel steigt immer weiter an und insgeheim rätselt man darüber, warum der isländische Familienzweig von Luise so schlecht auf sie zu sprechen ist nach allem, was man nach und nach von ihr erfährt. Neben dem gesellschaftlichen Leben in Island und den schönen Landschaftsbeschreibungen ist es vor allem der immer bösartig werdende Umgang der Nazis mit den Juden, der den Leser in Atem hält und ihn durch eine Achterbahn der Gefühle jagt.
Die Charaktere sind lebendig in Szene gesetzt, wirken mit ihren menschlichen Eigenschaften sehr realistisch und authentisch, so dass der Leser sich gern unter sie mischt und mit ihnen hofft, bangt und fiebert. Sofie ist eine sympathische Zeitgenossin, offen, selbstbewusst, handwerklich geschickt und mit einer guten Prise Neugier gesegnet, die ihr so manche Tür öffnet, sie aber auch vor Hindernisse stellt. Sie muss einen Schicksalsschlag verdauen und den Blick in eine freundliche Zukunft finden. Björkvin ist nicht nur einsilbig und ein liebevoller Vater, sondern verschließt ebenfalls seine Gefühle in sich, da er noch an etwas zu knabbern hat. Kirsten ist eine freundliche und warmherzige Frau, die Sofie gern unterstützt. Luise hat ihren eigenen Kopf, ist fleißig, hilfsbereit und liebt ihre Familie über alles. Bruder Heini vergeht vor Liebeskummer und sieht keinen anderen Ausweg als die Immigration ins Ausland. Jónas ist ein liebevoller und treuer Mann, der für Luise alles zu tun bereit ist, nur um mit ihr zusammen zu sein.
„Das Mädchen im Nordwind“ fesselt mit zwei wunderbar verwobenen Zeitebenen, in denen Familie, Liebe und Geheimnisse eine große Rolle spielen. Ebenso versteht es die Autorin, den Leser auf einen interessanten Kurztrip in die raue Schönheit Islands zu katapultieren, um dort eine kurzweilig Auszeit zu genießen. Absolute Leseempfehlung für eine Geschichte, die einen von Beginn an gefangen nimmt!