Kostbare Lektüre
,,Tja, das war's dann", sagt Dad Lewis nach seiner Krebsdiagnose zu seiner Frau Mary. Ihre Antwort lautet: ,,Ich möchte nicht, dass du schon gehst." So undramatisch, fast sachlich erzählt Kent Haruf vom ...
,,Tja, das war's dann", sagt Dad Lewis nach seiner Krebsdiagnose zu seiner Frau Mary. Ihre Antwort lautet: ,,Ich möchte nicht, dass du schon gehst." So undramatisch, fast sachlich erzählt Kent Haruf vom letzten Sommer, den Dad Lewis in der fiktiven Kleinstadt Holt in der Nähe von Denver erlebt. Dabei lässt gerade die lakonische und sachliche Erzählweise dem Leser viel Raum für Emotionalität, die dadurch, dass sie nicht explizit ausgedrückt wird, umso eindringlicher wirkt.
Dad Lewis verlebt seine letzten Wochen und Tage mit seiner Frau Mary und der Tochter Lorraine, die zur Unterstützung ihrer Eltern nach Holt zurückkehrt. Dad Lewis sitzt auf der Terrasse, schaut auf die vertraute Landschaft, die Nachbarhäuser, bekommt Besuch von seinen Angestellten, den Nachbarn oder dem neuen Reverend, der mit seinen Ansichten keinen leichten Stand in der Gemeinde hat. Diese eigentlich alltäglichen Begegnungen bekommen eine besondere Bedeutung, da es vielleicht letzte Begegnungen sein werden. Auch diese Szenen werden unaufgeregt geschildert, Dad Lewis' Krankheit wird von allen, vor allem von ihm selbst, recht sachlich, aber knapp thematisiert. So bleibt ihm Zeit, noch offene Angelegenheiten zu klären. Lorraine und Mary fahren mit ihm noch einmal durch die kleine Stadt und besuchen Orte, die Dad Lewis noch einmal sehen möchte. So kann er Erinnerungen aufleben lassen und gleichzeitig Abschied nehmen. Sehr bewegend fand ich, wie liebevoll und vertraut die Familie und insbesonders auch die Eheleute miteinander umgehen. Allerdings beschäftigen Dad Lewis auch unangenehme Gedanken und Träume. Zu seinem Sohn Frank hat er nach einem bösen Streit seit Jahren keinen Kontakt mehr. Auch Marys Suche nach dem ,,verlorenen Sohn" verläuft erfolglos. Und so spricht Dad Lewis in den stillen Nachtstunden mit ihm und auch mit seinen verstorbenen Eltern.
Wie in den anderen Romanen von Kent Haruf gibt es Nebenfiguren und mit ihnen neue Geschichten. So zieht z.B. die kleine Alice im Nachbarhaus ein. Nach dem Tod ihrer Mutter lebt sie nun bei ihrer Großmutter. Ihre Jugend verleiht der teils doch sehr melancholischen Stimmung einen zarten Hoffnungsschimmer.
,,Kostbare Tage" ist keine leichte Lektüre, sondern ein berührender und vielschichtiger Roman über Liebe, Vertrauen und Lebensfreude, aber auch über Kummer, Abschied, Sterben und Fehler im Leben, die nicht immer wiedergutzumachen sind.