Im Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich...
Nachdem mich im letzten Dezember "All Saints High" in seinen Bann gezogen hat, habe ich gespannt auf Nachschub von L. J. Shen gewartet. "Boston Belles - Hunter" ist nun der Auftakt einer neuen vierbändigen ...
Nachdem mich im letzten Dezember "All Saints High" in seinen Bann gezogen hat, habe ich gespannt auf Nachschub von L. J. Shen gewartet. "Boston Belles - Hunter" ist nun der Auftakt einer neuen vierbändigen Reihe, welcher mit Hunter einen Charakter aus der "All Saints High"-Reihe aufgreift und mit Sailor der Tochter der Protagonisten aus ihrem Stand-Alone-Roman "Sparrow" eine Stimme verleiht. Auch wenn mich hier wieder einige Dinge gestört haben, entwickelt auch "Boston Belles - Hunter" einen atemberaubenden Sog, dem man nicht mehr entkommt. L. J. Shen tanzt hier mal wieder auf der schmalen Linie zwischen Liebe und Hass und kostet alle Facetten beider Emotionen so ausführlich auch, dass manche Stellen fast lyrisch schön sind und man andere wiederum man am liebsten überspringen würde. Hoffnungslos gefangen irgendwo zwischen "Wow" und "Igitt" - das beschreibt auch meine Erfahrung mit diesem Buch ganz gut.
Das Cover könnte meiner Meinung nach leider nicht schlechter passen (außer vielleicht es wären noch Herzchen und Einhörner zu sehen), auch wenn es wunderschön anzusehen ist. Denn "Boston Belles" ist meilenweit entfernt von einer stimmungsvollen High-School-Romanze, welche durch die zarten rosa Rosen und den hellen glitzer-Hintergrund und den großen, leuchtenden Titel impliziert wird. Hier geht es nicht süß, unschuldig oder gar romantisch zu - diese Geschichte ist explizit, rücksichtslos und hart und hätte daher in meinen Augen eher einen schwarz-roten Vamp-Look verdient gehabt. Dies war also einer der Momente, in denen ich die wunderschönen, aber nichtssagenden LYX-Cover verflucht habe. Denn so (und ohne zuvor etwas von L. J. Shen gelesen zu haben) sind ahnungslose Leser komplett unvorbereitet auf die von negativen Gefühlen durchtränkte Atmosphäre, die hier auf uns zukommt.
Erster Satz: "Es war einmal ein verwunschenes Schloss, in dem alles verwelkte, nur die Seele eines Jungen nicht."
Nach einem märchenhaften Prolog wirft uns die Autorin übergangslos in eine der unangenehmen, verstörenden Szenen, die eines ihrer Markenzeichen sind. Welche Autorin würde uns den männlichen Love Interest nackt und mit diversen Körperflüssigkeiten bedeckt auf dem Boden liegend vorstellen, nachdem er eine wilde Orgie gefeiert hat, die auch noch gefilmt wurde und im Internet gelandet ist? Tja, das bekommt auch nur L. J. Shen fertig. Und auch nur sie schafft es, dass man sich zu Beginn zwar ganz sicher ist, dass man den verwöhnten, nutzlosen und skandalös über die Stränge schlagenden Hunter Fitzpatrick niemals mögen könnte, seine eigene Einschätzung einige Seiten später aber nochmal revidieren muss. Dazu trägt auch vor allem die zweite Protagonistin und zweite Ich-Erzählerin Sailor Brennan bei, die wir als kämpferisch Athletin mit dem hohen Ziel der Olympischen Spiele und kaum vorhandenem Privatleben kennenlernen. Während wir uns mit ihr sofort identifizieren können, hat man es mit Hunter zunächst sehr schwer. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Zusammenleben nicht unterhaltsam zu lesen wäre. Im Gegenteil: Durch ein Arrangement, das ihre beiden Väter für sie getroffen haben, soll Hunter endlich auf den Boden der Realität zurückfinden und Sailor etwas aus ihrer Comfort Zone herauskommen. Doch als Hunter die Jagd auf die unerfahrene Sailor eröffnet, rechnet er nicht damit, dass sie zurückschlägt...
Sailor: "Ich glaube, wir werden eine gute Lektion füreinander sein, Sailor. Du weißt nicht, wie man lebt, und ich kann nichts anderes, als hedonistisch zu leben." Als er das sagte, wurde mir klar, dass ich mich niemals sterblicher gefühlt hatte. Aber sterblich zu sein, bedeutet lebendig zu sein. Ich hatte so viel zu verlieren. So viel zu gewinnen. So viel zu fühlen."
Da Hunter weder ein Drogenproblem hat noch zu Gewaltausbrüchen oder Grausamkeit neigt (immerhin etwas) und es um Sailors geistige und emotionale Gesundheit recht gut steht (zumindest für L.J. Shen-Verhältnisse), ist "Boston Belles" etwas weniger hart zu lesen als "All Saints High". Dennoch - und das kann man bei den Büchern der Autorin nicht oft genug betonen - ist die Geschichte sehr derb und explizit geschrieben, bringt in die ein oder andere verstörende Situation, bereitet Unwohlsein und bricht das Herz und lullt die Leser in alles andere als eine romantische Wohlfühlatmosphäre ein. "Boston Belles" ist weit davon entfernt, eine typische Haters-to-Lovers-Geschichte zu sein. Ja, die Geschichte war intensiv und leidenschaftlich, wie im New Adult Genre erwünscht, aber sie ging auch an die Grenze der Menschlichkeit ihrer gebrochenen Protagonisten, ... und ab und zu darüber hinaus. On top gab es hier wieder eine reichhaltige Metaphorik, die vor allem auf die Jagd und somit auf ein Wortspiel mit Hunters Namen abzielt und benutzt wird, um die Atmosphäre mit noch mehr Düsternis anzureichern. Neben diesen Kunstmotiven verdunkeln vor allem Gefühle wie Begehren, Rache, Hass und Verachtung die Atmosphäre, die nur ab und zu von positiveren Anklängen abgelöst werden. Die Autorin bedient sich der ganzen Gefühlspalette, um ihre Figuren leiden, taumeln und fallen zu lassen, nur um sie danach liebevoll wieder aufzurichten.
Hunter: "Ich bin so nie einem Mädchen begegne, das gleichzeitig so kalt und so feurig war. In einem Moment denke ich, dass du mit Sicherheit in Ohnmacht fällst, wenn ich deine Hand berühre, und im nächsten Moment bin ich mir sicher, dass du mich im Schlaf umbringen wirst. Du bist echt ´ne komische Nummer, KK."
Grundsätzlich bin ich absolut kein Fan von Dark Romance mit toxischen Beziehungen, intriganten Manipulationen, hartem Mobbing und romantisierter Gewalt und bevorzuge eher "harmlose" Liebesgeschichten. Auch wenn alles, was L. J. Shen schreibt, definitiv Anklänge von Dark Romance hat, gefällt mir bei ihren Geschichten, dass ihre Figuren sich den Grenzen, die sie überschreiten bewusst, dass Richtig und Falsch immer klar getrennt und Fehlverhalten und Missstände nicht romantisiert werden. Auf diese Art kann man sich in einem sicheren Raum der Düsternis, Wildheit, Abhängigkeit und Zügellosigkeit der Geschichte stellen, die auch negative Gefühle voll ausschöpft und wird nicht von ständigen Cringe-Attacken überfallen, wie oft bei anderen Büchern des Genres. Denn mit der ganzen Düsternis kommt auch eine krankhafte Faszination, die ich gar nicht leugnen will. Diese drückt sich nicht nur durch die zwiespältigen Handlungen der Protagonisten im Buch aus, sondern überträgt sich auch auf den Leser. Die Autorin offenbart menschliche Abgründe und man selbst ist zu mitgerissen, um wegsehen zu können.
Sailor: "Ich wusste nicht, wie so was möglich war, aber mit den Wunden und Schrammen sah er noch besser aus. Wie ein brandneues Auto mit dem ersten Kratzer, der es von irgendeinem Auto in dein Auto verwandelte - mit einer gemeinsamen Geschichte, Erinnerungen und Gepäck. In diesem Augenblick wünschte ich mir, ich hätte niemals einen Blick auf Hunter Fitzpatrick geworden, denn ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass er trotz seines verwöhnten, schlechten Benehmens und seiner Vergnügungssucht von Natur aus gut, loyal und mutig war. Diese Dinge machten ihn für mich sehr gefährlich. Gefährlich attraktiv."
Als sich in der zweiten Hälfte dann zartere Gefühle hinter der toxischen Dynamik der beiden offenbaren, kommen dafür deutlich handfestere Probleme auf den Tisch, die das Weiterlesen ihrerseits wiederum schwer machen. Man sollte die vorangestellte Triggerwarnung also unbedingt beachten: Diese Geschichte bietet nämlich auch ernsten Stoff zum Nachdenken und befasst sich mit einem sensiblen Thema. Hier beweist die Autorin abermals, dass sie auch anders kann. Denn wenn man an der derben Sprache ihrer Figuren und ihren unschönen Masken vorbeisieht, ist die Geschichte einfach herzzerreißend schön und kunstvoll gemacht mit beinahe lyrischen Szenen und einer Intensität, die ich auch gerne mal in Originalsprache genießen würde.
Sailor: "Er war ein einsamer Prinz - unberührbar und dennoch voller Sehnsucht nach einer Umarmung. Brilliant, aber völlig missverstanden. Auf einem Thron aus unerfüllten Erwartungen und Enttäuschung. Ich fragte mich, ob er überhaupt wusste, dass er klug und tapfer war und ein gutes Herz hatte. Ich fragte mich, ob ich das törichte Mädchen sein würde, die ihm dieses Geheimnis eröffnete. Ich erkannte, dass er recht hatte: Ich war zwar die Bogenschützin, aber der wahre Jäger war er."
Neben der mitreißenden Atmosphäre und dem Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich ist die Handlung aber leider recht dürftig. Außer der Tatsache, dass Hunter und Sailor zusammenleben, er im Familienunternehmen Royal Pipelines arbeitet und sie neben ihrem Training ab und zu mit ihren Freundinnen ausgeht, passiert nicht besonders viel, was zu vielen sehr kurzen Szenen mit unregelmäßigen Zeitsprüngen dazwischen führt. Einige Vorrezensenten haben kritisiert, dass ihnen hier ein roter Faden fehlen würde. Das würde ich nicht unbedingt so sagen, da durch einige offene Fragen und zusätzliche Rätsel durchaus so etwas wie ein größerer Rahmen neben dem Hauptkonflikt zwischen Hunter und Sailor aufgespannt wurde. Die beiden Hauptfragen - was genau für das schlechte Verhältnis von Hunter zu seiner Familie gesorgt hat und was es mit Sailors verbissener Rivalität mit der Bogenschützin Lana auf sich hat - werden jedoch leider viel zu lange vor der Geschichte hergeschoben, künstlich in die Länge gezogen und am Ende nicht wirklich zufriedenstellen (sprich realistisch) aufgelöst. Auch die geheimnisvollen Intrigen von Hunters Arbeitskollege Syllie soll wohl zusätzlich den Spannungsbogen aufpeppen, verläuft sich dann aber leider etwas in der Bedeutungslosigkeit. Ich würde also nicht das Fehlen, sondern eher die mangelhafte Umsetzung des roten Fadens kritisieren.
Sailor: "Du kannst es überleben", flüsterte er in meinen Mund. "Es?", fragte ich mürrisch. "Uns. Ich habe eine Seele aus Glas, Baby. Schön anzusehen, aber sie zerbricht leicht. Sie bringt dich zum Bluten und niemand kann sie festhalten."
Leider sind mir noch andere Dinge eher negativ aufgefallen. Die beiden Figuren waren mal wieder sehr jung, was zu gleich ihr manchmal etwas unreifes Verhalten erklärt, aber in Diskrepanz mit manch anderen Teilen der Handlung steht. Als Beispiel würde ich den dreistelligen Frauenverschleiß Hunters anführen, welcher mir bei seinen neunzehn Jahren reichlich übertrieben erschien. Auch einige Entwicklungen der Figuren waren nicht wie sonst sorgfältig vorbereitet, sondern kamen gegen Ende recht flott. Dazu kommen dann noch ein paar Schlaglöcher in der Übersetzung, die leider über ein, zwei Tippfehler hinausgehen. Neben der Tatsache, dass Hunter wohl im Original so deftig im Fernsehen flucht, dass ihn die Moderatorin zur Ordnung verweist, mir in der Übersetzung aber keine Formulierung aufgefallen ist, an der sie hätte Anstoß nehmen können, sind mir auch mehrere "Fitzgeralds" ins Auge gefallen, die angesichts der Tatsache, dass die Familie FITZPATRICK heißt, dort nichts zu suchen hatten.
Hunter: "Wir redeten nicht darüber, was wir waren. Oder was wir nicht waren. Wir existierten nur: ein Schmetterling und ein Mann, der schöne Dinge zu schätzen wusste. Nebeneinander im Auge eines Sturms, in den man uns geworden hatte."
Dennoch: jetzt bin ich sehr gespannt auf die Geschichte von Hunters großen Bruder Cillian, der wohl in "Boston Belles - Villian" auf Persephone, eine von Sailors besten Freundinnen trifft. Im dritten Teil wird es dann um Hunters süße, kleine Schwester Aisling gehen, die sich wider Erwarten von Sailors Bruder Sam, der ein übler Gangster... - nein, natürlich ein "ehrlicher Geschäftsmann, solange niemand das Gegenteil beweist" - ist. Dann bleibt im vierten Band nur noch die Geschichte von Sailors anderer besten Freundin Belle zu erzählen, die bestimmt auch noch einen (mir bislang noch unbekannten) Love Interest erhält, der es ganz schön in sich hat. Ich bin gespannt!
Fazit:
"Boston Belles - Hunter" hat die typische mitreißende Atmosphäre eines L.J. Shen Romans und spannt mit Figuren, Schreibstil und Handlung mal wieder ein Spannungsfeld zwischen schön und schrecklich auf. Leider konnten mich das Ende, einige Entwicklungen und Nebenhandlungsstränge nicht wie gehofft überzeugen.