Vor einigen Wochen habe ich mit "King of Scars" meine ersten, vorsichtigen Schritte im Grisha-Verse gemacht und da ich diese ungewöhnliche Fantasywelt lieben gelernt habe und zudem auch die Notwendigkeit der Vorgeschichte für das Verständnis von "King of Scars" einräumen musste, habe ich mir vorgenommen, sowohl Leigh Bardugos "Grisha"-Trilogie als auch ihre "Krähen"-Reihe zu lesen. Mit "Goldene Flammen", welches ich netterweise vom Verlag im Schuber erhalten habe, machte ich den Anfang und habe meine etwas verspätete Neugier auf diese gehypte Reihe nicht bereut! Eine magische Geschichte über Freundschaft, Schönheit, Selbstwahrnehmung, Dazugehören, unerwiderte Liebe, Manipulation, Verrat, Dunkelheit und Licht.
"Ich habe sehr lange auf dich gewartet, Alina", sagte er.
"Gemeinsam werden wir die Welt verändern."
Erst vor einigen Tagen hat der Knaur Verlag, der schon "King of Scars" und der "Krähen"-Reihe Geburtshilfe geleistet hat, eine neue Auflage der vormals im Carlsen-Verlag erschienenen Grisha-Reihe in einem praktischen Schuber herausgebracht. Neu übersetzt, mit wunderschöner Karte und den hinreißenden Originalcover ausgestattet kann ich jedem Grisha-Fan die neue Ausgabe wirklich nur ans Herz legen. Wie auf dem Originalcover ist auf dunkelblauem Grund die Silhouette eines majestätischen Hirschkopfes in hellen Blau-Schlieren zu sehen, wodurch ein Hauptmotiv der Handlung aufgegriffen wird. Der goldene Titel, Autorenname und die Verzierungen in den Ecken runden die Gestaltung gelungen ab. Auch die vielen subtilen Namensänderung wie vom eingedeutschen "Grischa" in das Original "Grisha", von "Rawka" in "Ravka", von "Genja" in "Genya" oder von "Maljen" in "Malyen" und die Korrekturschliffe der neuen Übersetzung machen die neue Ausgabe lohnenswert.
Erster Satz: "Die Diener nannten sie Malenchki, Geisterchen, denn die Kleinsten und Jüngsten suchten das Haus des Herzogs heim wie kichernde Phantome, rannten durch die Zimmer, versteckten sich in Schränken, um zu lauschen, und stahlen die letzten Pfirsiche des Sommers aus der Küche."
Alina Starkov und Malyen Oretsev sind zwei dieser kleinen Malenchki, die seit dem Tod ihrer Eltern in Ravkas ewigen Kriegen bei einem Herzog Zuflucht gefunden haben und unzertrennlich sind. Als eine von etlichen Waisenkindern ist sie wertlos, unterschätzt und unscheinbar. Auch später in der Armee, als er ein erfolgreicher Fährtensucher und sie eine einfache Kartenzeichnerin ist, er zum umjubelten Frauenschwarm geworden und sie ein dürrer, blasser Niemand geblieben ist, verbringen sie jeden Tag zusammen und sie liebt ihn unbemerkt aus dem Schatten heraus, den er wirft. Als sie bei der Überquerung der Schattenflur jedoch auf unerklärliche Weise ihr Regiment beschützt, in dem sie strahlendes Licht hervorbeschwört, ändert sich ihre Stellung schlagartig. Sie ist nicht länger ein Niemand, der im Schatten steht sondern eine mächtige Grisha, die das Interesse von verschiedenen Parteien auf sich zieht. Denn Alinas verborgene Macht könnte der Schlüssel sein, den ihr vom Krieg verwüstetes Land befreien kann. Doch kann die junge Sonnenkriegerin in all dem Trubel um sie den richtigen Weg finden um Ravka zu retten und dabei ihren Freund und die Liebe ihres Lebens nicht aus den Augen verlieren...?
"Gib es doch zu.", höhnte er. "Du gehörst ihm."
"Du gehörst ihm auch, Mal", erwiderte ich beißend. "Wir alle gehören ihm."
Mit dieser Frage beschäftigen sich die 22 kurzen Kapitel sowie ein kurzes "davor" und ein "danach" aus der dritten Person. Ansonsten erzählt Alina aus der Ich-Perspektive von ihren Erlebnissen. Dabei steigen wir sofort mit einer ordentlichen Portion Action in die Geschichte ein, bevor wir mit Alina verarbeiten müssen, dass sie eine Grisha ist und vom überschaubaren Heereslager durch das ganze Land reisen, um in die fremde, schillernde Welt Ravkas einzutauchen. Die schwierigen, russischen Namen, Orte und Bezeichnungen der Orden der Grisha war ich dank meines äußerst verwirrenden Ausflug in "King of Scars" schon gewohnt, sodass ich mich ohne Probleme in die wundervolle Fantasy-Welt versenken und die überraschenden Wendungen, die lebendigen Dialogen und die langsam aber stetig steigende Spannung genießen konnte.
"Vielleicht würde ich zum Geruch eines Lagerfeuers erwachen, auf meinem Feldbett und in meinen alten Kleidern, und dann würde ich Mal von diesem seltsamen und furchterregenden, zugleich aber wunderschönen Traum erzählen.
Ich strich mit dem Daumen über die Narbe auf meiner Handfläche und hörte Mal sagen: Uns wird nichts passieren, Alina. Du weißt doch, dass wir einen Schutzengel haben.
"Das hoffe ich, Mal", flüsterte ich in mein Kopfkissen."
Die Karte zu Beginn und die Übersicht über die verschiedenen Grisha-Orden helfen dabei, den Überblick zu behalten. Die grundlegenden Konzepte von Bardugos magischer Welt erschließen sich zumeist aus dem Zusammenhang und dem Wortlaut. So haben die Korporalki (Entherzer, Heiler, Bildner) Macht über den menschlichen Körper, Ätheralki sind Beschwörer, die durch gekonnte Manipulation ihre Umwelt kontrollieren können (Feuer = Inferni, Winde = Stürmer und Wasser =Fluter), und Materialki haben sich auf die Beeinflussung von Metallen (Durasten) oder Gifte (Alkemi) spezialisiert. Neben der magischen Welt der Grisha, die im sogenannten "kleine Palast" in Ravkas Hauptstadt Os Alta leben, lernen und arbeiten, gibt es auch eine politische Sphäre mit einem Zar und einer Zarin, die im "großen Palast" leben. Und auch abseits der Hauptstadt hält die slawische Fantasywelt voller uralter Wesen, schwarzer Magie und Wunder viel zum Entdecken bereit. Ob mächtige Kräftemehrer aus vergangenen Zeitaltern, die geheimnisvolle Schattenflur voller alptraumhafter Kreaturen oder die kalte Wildheit der Wälder Ravkas - die Autorin erschafft eine einnehmende Welt abseits der sonst so präsenten Vampir-/ Werwolf-/ Zauberer-/ Feen-/ Elfen-/ Zwergen-/ Fae-/ Drachen-/ Nixen-Fantasy.
"Es gibt etwas, das mächtiger ist als jede Armee. Etwas, das Zaren entthronen, ja sogar den Dunklen stürzen kann. Weißt du, wie dieses Etwas heißt?" Ich schüttelte den Kopf, während ich vor ihm zurückwich. "Glaube", hauchte er, und seine schwarzen Augen schienen zu lodern.
"Glaube."
Dabei ist ihre Figurenpalette ebenso bunt wie ihr Setting. Da wäre die unscheinbare, völlig durchschnittliche Protagonistin Alina, die immer ein unsichtbarer Niemand war, bis ihre verborgenen Kräfte ihr unerwartete Macht verleihen. Als unscheinbare, mittellose Waise musste sie miterleben, welche Wege durch Schönheit, Reichtum und Macht anderen geöffnet werden nur um plötzlich selbst im Zarenpalast zu stehen und der Liebling des obersten Grisha zu sein, den alle nur den "Dunklen" nennen. Dass sie weder eine Schönheit, noch entstellt, weder Rebellin noch Mitläuferin, weder Zicke noch Gutmensch ist, sondern einfach ein total durchschnittlicher Mix dazwischen macht sie herrlich normal und somit zur idealen Identifikationsfigur. Malyen hingegen ist der typische treue, gutaussehende Freund und Schwarm, neben dem sie immer schlecht dastand - bis sie ihn durch ihre Macht in den Schatten stellt und ihn dazu zwingt, etwas anderes in ihr zu sehen, als seine beste Freundin. Auch wenn ihre Beziehung sehr vorhersehbar, recht oberflächlich und klischeehaft ablief, fügt sich die kleine Liebesgeschichte unspektakulär und passend in die Geschichte.
"Mal", flüsterte ich in die Nacht. "Was denn?"
"Danke, dass du mich gesucht hast."
Vielleicht träumte ich nur, aber ich hörte, wie er irgendwo im Dunkeln flüsterte. "Immer."
Sehr schön sind auch die Nebenfiguren, die hier kurz angerissen werden und noch viel Raum und Potential zur weiteren Entwicklung haben. Ans Herz gewachsen ist mir zum Beispiel die wunderschöne Genya, die ihr Herz an einen nerdigen Fabrikator verloren hat, der sich für nichts anderes als seine Metalle zu interessieren scheint, die eigenwillige, geheimnisvolle Baghra, die wie eine Märchenhexe erscheint aber ein weiches Herz hat oder der erbarmungslose Botkin mit dem Meister-Yoda-ähnlichen Shu-Akzent. Eine sehr spannende Figur ist außerdem der Dunkle, der zu Beginn schwer einzuschätzen ist, auch wenn ihn sein Name schon als "Bösewicht" der Geschichte entlarvt. Als Anführer der "Zweiten Armee" von Ravka - einer magische Eliteeinheit von Grisha, die für die Verteidigung Ravkas zuständig sind - verfügt er über unvergleichliche Macht, die zusammen mit seinem Charisma und seiner makellosen Schönheit eine starke Anziehung ausübt. Gleichzeitig sind jedoch seine Pläne dubios, seine Methoden grausam und sein Blick kalt. Ob hinter dieser Fassade noch ein liebenswürdiger Charakter steckt oder er wie erwartet zum Bösewicht wird, müsst ihr beim Lesen selber herausfinden.
"Dies ist sein wahres Wesen", dachte ich, als ich in das grelle Licht blinzelte. "Gleiches ruft Gleiches." Dies war seine Fleisch gewordene Seele, seine tiefste Wahrheit, offengelegt von der grellen Sonne, aller Schatten und Hüllen beraubt. Dies war die Wahrheit hinter seinem hübschen Gesicht und seiner eindrucksvollen macht, eine Wahrheit, ebenso tot und leer wie das Nichts zwischen den Sternen, eine von verängstigten Ungeheuern bevölkerte Wüste."
Düster, magisch und spannend webt sie ihre Geschichte, nimmt uns mit an schillernde Schauplätze und schockt uns mit Überraschungen. Dabei tragen nie Kämpfe, Intrigen, Brutalität und Irrglaube den Sieg davon, sondern immer Mitgefühl, Freundschaft und Liebe, sodass sich die Geschichte liest wie ein Märchen: mal düster und bedrohlich, mal leuchtend bunt und immer wunderschön! Wer Leigh Bardugos wundervollen Schreibstil aus ihren späteren Büchern kennt weiß jedoch, dass dieser erste Band sowohl inhaltlich als auch sprachlich nur an der Oberfläche kratzt. Bei einem Umfang von 344 Seiten kommt der Gedanke schon früh auf, dass dies für einen Fantasy-Roman ein wenig kurz gehalten ist. Das Einleben in einer neuen Welt, die überhastete Flucht, die beschwerliche Reise durch die verschneite Wildnis und der spannende Endkampf - all das wird zwar ausreichend beschrieben, ließe aber noch Potential für viel mehr Epos und Detailreichtum. So bleiben Protagonisten und Setting trotz der tollen Ideen noch recht blass und die intensiven Gefühle, die imposante Bildgewalt und die drängende Bedeutung, die ich aus ihren anderen Werken kenne, fehlen hier noch. Auch auf der Handlungsebene gibt es immer wieder kleine Schnitzer. Beispielsweise ist es äußerst unrealistisch, dass der Dunkle und seine Armee immer wieder wie aus dem Nichts auftauchen und Mal und Alina zweimal überfallen werden, wo doch Mal ein sooo guter Fährtenleser ist.
Nichtsdestotrotz ein gelungener Auftakt voller Schmerz, Macht, Freundschaft, Mitgefühl, Liebe, Kraft, Mut und natürlich viel Magie, der Lust auf mehr macht. Ich bin im Moment schon mitten in Band 2 und habe festgestellt, dass ich die Reihe gerade rechtzeitig begonnen habe. Denn Netflix hat angekündigt, das "Grisha"-Verse als großes Serien-Event zu produzieren und somit die "Grisha"-Trilogie zusammen mit den "Krähen"-Bestsellern und der neuen "King of Scars"-Dulogie auf die Leinwand zu bringen.
Beenden will ich die Rezension gerne mit einer der schönsten und authentischsten Liebeserklärungen, die ich jemals gelesen habe:
"Ich habe dich jede Stunde vermisst. Und am schlimmsten war, dass mich das völlig überrascht hat. Ich habe mich dabei ertappt, dich zu suchen. Nicht aus einem bestimmten Grund sondern nur aus Gewohnheit, oder weil ich etwas gesehen hatte, von dem ich dir erzählen wollte. Dann wurde mir bewusst, dass du fort warst, und ich hatte jedes, wirklich jedes Mal das Gefühl, als würde mir die Luft wegbleiben. Ich habe mein Leben für dich aufs Spiel gesetzt. Ich bin für dich durch halb Ravka gezogen, und das würde ich wieder tun, nur um bei dir zu sein. Selbst wenn es bedeutet, mit dir zu hungern und zu frieren und mir dein Gejammer über den ewigen Hartkäse anzuhören. Also erzähl mir nicht, dass wir nicht zusammengehören."
Fazit:
Ein gelungener Auftakt voller Liebe, Schmerz, Schönheit, Macht, Freundschaft, Manipulation, Mitgefühl, Kraft, Mut, Dunkelheit, Licht und natürlich viel Magie, der Lust auf mehr macht.
Düster, magisch und spannend - lässt aber noch Potential nach oben!