Das Thema Verdingkinder war mir bis zur Lektüre des neuen Romans von Linda Winterberg nicht bekannt. Was sind Verdingkinder? Um 1800 wurden in der Schweiz Waisen oder Scheidungskinder an Pflegefamilien abgegeben. Je weniger Kostgeld die Pflegeeltern wollten, umso eher erhielten sie Kinder zugeteilt. Diese mussten hart arbeiten - oft auf Bauernhöfen als Knecht oder Magd - und wurden geschlagen und sogar missbraucht. Die Verdingkinder wurden geächtet und auch in der Schule gemobbt. Zarte Kinderseelen, die ihre Eltern verloren hatten und darunter litten, wurden gequält und als Abschaum behandelt. Alleine, wenn ich diese Zeilen hier tippe, werde ich so wütend und frage mich immer wieder, wie man hilflosen Kindern so etwas bis in die 1980iger (!) antun konnte. Dass die Zeit dieser unmenschlichen Vorgehensweise noch gar nicht so lange zurückliegt, macht mich sprachlos. Ich bin selbst in den späten 1960iger Jahren geboren und mich erschreckt es zutief, dass mir dieses Schicksal ebenso drohen hätte können, wenn ich in der Schweiz geboren und einen Elternteil verloren hätte.
So ergeht es Lena und Marie, die 1968 zu Halbwaisen werden. Nachdem ihr Vater, ein Schuster verstirbt, fällt die Mutter der Mädchen in eine tiefe Depression. Hilfe gibt es weder für die Witwe, noch für die Kinder - im Gegenteil. Marie und Lena sind auf sich alleine gestellt bis eine Nachbarin ihre Mutter bei der Behörde denunziert. Daraufhin werden ihr die Mädchen weggenommen und zuerst ins Kinderheim und darauffolgend in ein Erziehungsheim, das von Nonnen geführt wird, gesteckt. Ein wahrer Alptraum für die Mädchen, der jedoch noch nicht zu Ende ist. Die Nonnen trennen die Schwestern und geben sie zu unterschiedlichen Pflegefamilien. Lena wird einer Bauersfamilie zugeteilt und muss hart arbeiten. Der Sohn der Familie stellt ihr nach und zu Essen gibt es kaum etwas. Marie scheint es besser getroffen zu haben. Sie kommt zu einer gottesfürchtigen Familie, die einen Blumenladen führt und darf eine Ausbildung als Floristin beginnen. Doch auch ihr Leben ändert sich bald dramatisch. Beide Schwestern erleben schlimme Schicksale....
Im Gegenwartsstrang lernen wir die Investmentbankerin Anna kennen. Sie findet zufällig in den Unterlagen ihrer Eltern, dass sie adoptiert wurde. Die Unzufriedenheit in ihrem Job und die plötzliche Identitätskrise steckt Anna nur schwer weg. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer wahren Mutter, doch die Spurensuche ist alles andere als einfach...
Die beiden Erzählstränge hat die Autorin gekonnt ineinander verflochten. Erst nach und nach lüftet sich ein Geheimnis ums andere. Als Leser kann man manchmal einfach nicht glauben, was diesen armen Kinderseelen alles angetan wird. Die Erzählung rund um Lena und Marie ist aufwühlend und emotional. Sie sind dem Schicksal hilflos ausgeliefert. Die Geschwister leiden unter der Trennung und wissen nicht, was mit der jeweils anderen passiert ist. Beide Mädchen verlieren über all die Jahre aber nie die Hoffnung ihre Schwester wiederzufinden. Die Stärke, die beide an den Tag legen, ist bewundernswert! Schon beim Lesen war ich oft den Tränen nahe und konnte nicht glauben, was Lena und Marie alles durchmachen müssen.
Die Geschichte von Lena und Marie ist stellvertretend für das Schicksal vieler Verdingkinder und sollte nicht in Vergessenheit geraten.
Der Gegenwartsstrang hingegen hat mich eher wenig berüht. Mit Anna konnte ich mich nicht wirklich identifizieren und auch bei der Suche nach ihrer leiblichen Mutter bin ich ihr nicht wirklich näher gekommen. Ich hatte auch das Gefühl, dass hier einige Nebensächlichkeiten zu detailliert erzählt, während wichtige Details pauschaliert wurden. Die schlechte Beziehung der Adoptivmutter zu Anna fand ich etwas klischeehaft.
Schreibstil:
Die unter Pseudonym schreibende Autorin historischer Romane hat einen sehr emotionalen Schreibstil, der mich immer wieder an ihre Bücher fesselt. Ihre besonderen Themen, denen sie sich unter den Namen Linda Winterberg widmet, sind wahnsinnig gut recherchiert und aufwühlend.
Die Charaktere in der Vergangenheit sind sehr authentisch und ich litt und fühlte mit ihnen mit.
Fazit:
Der Roman beinhaltet ein dunkles Thema der Schweiz, das lange tot geschwiegen wurde. Dank Geschichten wie dieser, wird das Schicksal der Verdingskinder wieder aufgegriffen. Der Vergangenheitsstrang ist berührend und hat mich sprachlos zurückgelassen. Der Gegenwartsstrang konnte mich hingegen nicht ganz überzeugen. Deshalb gibt es 4 1/2 Sterne, statt 5. Auf jeden Fall ist es ein Roman, der einem noch lange nachdenklich zurücklässt. Ich empfehle ihn gerne weiter!