Der Titel ist wohl anders gemeint als man zunächst annimmt
Ich hatte mir ja unter „Jahre aus Seide – das Schicksal einer Familie“ einen Roman vorgestellt, der in der Tradition der derzeit populären Unterhaltungsliteratur von einer Fabrikantendynastie oder ähnlichem ...
Ich hatte mir ja unter „Jahre aus Seide – das Schicksal einer Familie“ einen Roman vorgestellt, der in der Tradition der derzeit populären Unterhaltungsliteratur von einer Fabrikantendynastie oder ähnlichem erzählt. Insofern hatte ich den Titel wörtlich genommen und den Klappentext so interpretiert, dass er in dieses Schema passt. Nach dem Lesen muss ich nun sagen: ich habe das alles falsch gedeutet. Die tatsächliche Seide, die im Klappentext als Ruth’s große Faszination beschrieben wird, spielt im Buch eine kaum wahrnehmbare Rolle. Die „Jahre aus Seide“ sind wohl eher metaphorisch gemeint, da das scheinbare Lebensglück von Martha, Karl und ihren Töchtern Ruth und Ilse so zart und dünn wie Seide ist und schnell Schaden nehmen kann. Denn die Familie ist jüdischer Abstammung, auch wenn das Judentum nicht in strenger Form ausgelebt wird. Und das ist im Deutschland der 1930er Jahre ein Glück, das sehr schnell zerreißen kann. Insofern finde ich den Titel gut gewählt, auch wenn ich ihn missgedeutet habe.
Ich muss sagen – ich hatte vollkommen andere Erwartungen an den Inhalt des Romans und deshalb fällt es mir schwer, die tatsächliche Geschichte zu bewerten. Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert, da es meiner Meinung nach den Alltag jüdischstämmiger Deutscher vor dem 2. Weltkrieg gut einfängt. Allerdings fand ich die erste Hälfte sehr langwierig (dem Grunde nach wird die ganze Zeit ein gutbürgerlicher Familienalltag beschrieben), während es dann im letzten Drittel des Buches plötzlich sehr turbulent wird. Im Klappentext wird von Ruth als Hauptfigur gesprochen, dennoch hatte ich das Gefühl, dass ihre Mutter Martha genauso die Protagonistin hätte sein können. Es gibt hier kein klares Gewicht, wer Hauptperson des Buches sein soll (dies kristallisiert sich bestimmt eher im zweiten und dritten Teil der Trilogie heraus).
Einige Passagen waren mir nicht recht nachvollziehbar, z. B. am Anfang, als Karl ewig überlegte, wie er dem Mechaniker Aretz helfen könne. Ich habe nach den beschriebenen Gegebenheiten sofort gedacht „mach ihn doch einfach zu deinem neuen Chauffeur“, aber bis dieser Geistesblitz im Buch dann tatsächlich kam, dauerte es gefühlt ewig… da hab ich mich gefragt, ob man mich für dumm verkaufen will. Es war wirklich auffällig, in welche Richtung es gehen soll und dann kommt ein erfolgreicher Geschäftsmann wie Karl nicht auf diese Idee? Hm…
In der zweiten Hälfte des Buches erfährt man so nebenher, dass es Martha psychisch so schlecht ging, dass sie eine Nervenheilanstalt aufsuchen musste – ein wirklicher Einschnitt ins Familienleben. Was wirklich dazu geführt hat, erschließt sich dem Leser aber nicht, denn vorher wurde Martha immer als zupackende, starke Frau und Mutter beschrieben, die ihren Haushalt im Griff hat und ihrem Mann eine Stütze ist. Ihre Zweifel oder Ängste werden lediglich zart angedeutet – hier wäre es für mich interessant gewesen, die Entwicklung in Marthas Persönlichkeit miterleben zu können. Leider ist das auf der Strecke geblieben.
Zwar habe ich den Alltag jüdischer Familien anhand dieses Romans gut nacherleben können, aber die Ungereimtheiten und Schwächen der Geschichte konnten das nicht ganz aufwiegen. Deshalb ist es für mich ein „ja, war okay“ –Buch mit einer Bewertung von 3 Sternen. Ob ich die weiteren Teile ebenfalls lesen werde, kann ich noch nicht sagen.