Eine intensive Lektüre
„Fast ein neues Leben“ von Anna Prizkau ist eine Zusammenstellung von 12 Erzählungen. Die Geschichten besitzen eine Länge von 5-13 Seiten. Trotz ihrer Kürze ist die Lektüre der Erzählungen ungemein intensiv: ...
„Fast ein neues Leben“ von Anna Prizkau ist eine Zusammenstellung von 12 Erzählungen. Die Geschichten besitzen eine Länge von 5-13 Seiten. Trotz ihrer Kürze ist die Lektüre der Erzählungen ungemein intensiv: Erzählt werden sie aus der Perspektive einer namenlosen Ich-Erzählerin, die aus ihrem alten Land nach Deutschland migriert ist. Dort erhofft sich die Familie der Ich-Erzählerin ein neues Leben, doch das Leben ist nur „fast“ ein neues. Auf unterschiedlichste Arten wird die Ich-Erzählerin mit ihrer Herkunft konfrontiert: Sei es durch Ablehnung ihrer Theaterstücke, deren Themen, so die Rückmeldung des Theater, die hiesige Bevölkerung nicht interessieren würde, durch physische Gewalt oder die verbale Behandlung als Mensch zweiter Klasse. Die einzelnen Erzählungen sind sehr gut konstruiert: Ihr wahrer Gehalt bzw. ihre eigentliche Bedeutung entfaltet sich jeweils erst in den letzten Sätzen, wodurch die Intensität der Lektüre gesteigert und die Leser*innen nachhaltig zum Nachdenken angeregt werden. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Erzählung „Kleine verlorene Alla“ handelt von dem Großonkel der Ich-Erzählerin, dessen Schwester seit Jahrzehnten verschollen ist. Als sich plötzlich eine Frau meldet, die behauptet, Alla zu sein, ist der Großonkel überglücklich. Die Mutter der Ich-Erzählerin wittert allerdings eine Betrügerin. Der Kniff der Erzählung ist nun, dass bis zum letzten Abschnitt offengehalten wird, ob es die echte Schwester ist oder doch eine Betrügerin. Ihr Verhalten ist dabei ambig, sodass beides möglich sein kann. Thematisch drehen sich die einzelnen Erzählungen um Migration, Zurückweisung, Scham, das Gefühl von Fremdheit und die Fragilität des Glücks. Sie erzählen dabei keine zusammenhängende Geschichte und sind auch nicht chronologisch geordnet. Jede einzelne Erzählung ist eine Facette, ein Mosaikstück des „fast“ neuen Lebens. Die Ordnung suggeriert dabei eine gewisse Assoziativität, die dem Erinnerungsprozess nachempfunden ist. So wechseln sich Episoden der jüngeren Vergangenheit mit Episoden aus der Kindheit der Protagonistin ab. Der Erzählstil ist dabei karg und eher nüchtern, was für mich die Bedeutungen der Erzählungen erhöht hat. Insgesamt ist „Fast ein neues Leben“ eine intensive Lektüre, die literarisch schön durchformt ist und zum Nachdenken anregt.