Feminismus über die Jahrhunderte hinweg
ALTHA 1619
"Wir haben uns nie als Hexen betrachtet, meine Mutter und ich. Denn dieses Wort hatten Männer erfunden. Ein Wort, das denen, die es aussprechen, Macht gibt, nicht denen, die es beschreibt. Ein ...
ALTHA 1619
"Wir haben uns nie als Hexen betrachtet, meine Mutter und ich. Denn dieses Wort hatten Männer erfunden. Ein Wort, das denen, die es aussprechen, Macht gibt, nicht denen, die es beschreibt. Ein Wort, das Galgen baut und Scheiterhaufen, das lebendige Frauen in Leichen verwandelt."
Altha und ihre Mutter gelten aufgrund ihrer Kräuterkentnisse und der Tatsache, dass sie ohne Mann leben, als Hexen. Nach dem Tod der Mutter wird die junge Altha als Mörderin angeklagt. Sie wird mehrere Tage in eine dunkle Zelle gesperrt, öffentlich gedemütigt, im Gerichtssaal entkleidet und vorgeführt, da ihre Naturverbundenheit als Gefahr für die "natürliche", eigentlich aber künstliche patriachale Ordnung gilt. Altha ist eine wahnsinnig starke junge Frau, die viel Leid ertragen muss, jedoch stets zu sich und ihrer Entscheidung steht, allein in einem abseits gelegenen Cottage zu leben und ihrer Berufung nachzugehen. Es wurde sehr deutlich, wie schwer es Frauen zur damaligen Zeit hatten, auch am Beispiel ihrer Freundin Grace, die von ihrem Mann stark misshandelt wurde und viel mehr als objektivierte Gebährmaschine denn als eigenständige Person betrachtet wird. Ich hatte großen Respekt vor den Frauen in diesen Kapiteln.
VIOLET 1942
"Es war schwer zu sagen, ob Vater sie liebte. Oft hatte es den Eindruck, dass ihn nur interessierte, ob er sie in etwas Hübsches, Braves verwandeln konnte oder nicht. In ein Geschenk, das er irgendeinem anderen Mann überreichen würde."
Violet wächst in einem goldenen Käfig, einem abseits gelegenen Herrenhaus, ohne soziale Kontakte auf. Offiziell als untypisch für eine "Dame" liebt die Teenagerin die Natur, erforscht Insekten und klettert auf Bäume. Sie war Jungfrau, als ihr Cousin sie vergewaltigte mit dem Zusatz "Ich gehe davon aus, es hat dir Spaß gemacht?", wodurch sie ein schwerwiegendes Trauma erlitt. Natürlich glaubte ihr niemand, sodass sie auf Althas Cottage geschickt wird, mutterseelenallein und mit einem Kind im Bauch, das abzutreiben einer "Sünde" gleichkommt. Violet denkt jedoch gar nicht daran, ihren verhassten Cousin zu heiraten und dessen Grausamkeit länger im Bauch zu tragen, weshalb sie sich Althas Kräuterbücher zunutze macht und das Kind verliert. Unterstützt wird sie von ihrem Bruder, dem einzigen Mann in ihrem Leben, der sie als Mensch wahrnimmt. Auch erfährt sie, dass ihre Mutter demselben Arzt zum Opfer fiel, der sie ungefragt auf ihre "Intaktheit" untersuchte und der Mutter die Gebärmutter entfernte, um diese von ihrer "Hysterie" zu befreien. Hysterie = Frau = Gebärmutter...logisch - nicht. Violet wird jedenfalls enterbt, weil sie nicht spult, dem Cousin fällt alles zu. Violet aber lebt ein erfülltes Leben als Insektenforscherin und bereist zahlreiche Länder, alles Dinge, die ihr durch die Heirat verwehrt geblieben wären. Violet ist ein paar Jahre jünger als Altha, hat aber zumindest ab und zu Unterstützung durch ihren Bruder. Sie ist eine wahnsinnig starke Protagonistin, ich habe mit ihr gelitten, gehofft, gebangt. Wahnsinn, dass diese routinemäßige Misshandlung der Frau vor gerade einmal 80 Jahren spielt.
KATE 2019
Kate ist mit 29 die älteste der drei Frauen. Nach 6 Jahren Misshandlung und Isolation durch ihren stark gewalttätigen Freund Simon, wird sie schwanger und verlässt London fluchtartig. Sie findet Zuflucht in Althas und Violets Cottage, das Letztere ihr vermacht hat, im Norden Englands. Dort findet sie endlich zu sich selbst und beschließt, das Kind zu bekommen und dies mit aller ihr zur Verfügung stehenden Macht zu verteidigen. Zuspruch findet sie in den Aufzeichnungen ihrer Ahninnen und Nachfahrinnen deren Freundinnen. Dieser Teil hatte etwas Thrillerhaftes an sich, weil er in der Gegenwart spielt und man stets Angst hatte, Simon würde Kate finden - was letztlich auch der Fall war. Es war schön zu sehen, wie sie sich von ihm befreit - von der Kleidung, die er für sie ausgesucht hat, von der Haarfarbe, die er ihr aufdrückte bis über die Angst und dadurch von seiner Macht über ihn.
Besonders im Kontext der Gegenwart sollte man sich hier nochmal die Zahlen häuslicher Gewalt zum Opfer gefallener Frauen vor Augen halten, in DE trifft das nämlich auf jede 3. (!) Frau zu! Da viele Frauen aus Scham oder Angst schweigen, werden solche Fälle oft gar nicht angezeigt oder als Affekttat (bei Mord) aus "Liebe" angegeben, obgleich es oftmals jahrelange Misshandlung mit sich führte und viel mehr als Frauenhass bezeichnet werden muss- denn, mal ehrlich, Liebe ist etwas anderes... Deshalb finde ich es ungemein wichtig, offen über solche Themen zu sprechen und das Gefühl von Gemeinschaft, Verständnis und Solidarität zu vermitteln.
Für mich zählt der Roman zu meinen Jahreshighlights. Die Verknüpfung der Schicksale der Frauen, wie sie sich über Jahre, teils Jahrhunderte hinweg helfend zur Seite standen, wie sie den Forderungen der Gesellschaft trotzten und sich für ein Leben in Selbstachtung und Selbstbestimmung entschieden, war einfach unglaublich stark. Aus den Opfern werden Überlebende, aus den Überlebende unabhängige, starke junge Frauen.
Zudem war das Buch wahnsinnig fesselnd geschrieben, ich konnte die Verbindung der Frauen zur Natur, ihrer Ursprünglichkeit, richtig fühlen, wie auch ihren Leidensweg, ihre Hoffnungen, Ängste und Sehnsüchte. Es war richtig inspirierend, muss man sagen. Auch der Blick auf die Natur wird sich für einige Leser und Leserinnen durch die Lektüre mit Sicherheit ändern.
Die drei Perspektiven wechselten sich ab, die Kapitel hatten eine angenehme Länge. Anfangs hätte mir es geholfen, wäre bei jedem Kapitel nochmal die Jahreszahl dabei gestanden, aber die fand man ohnehin nochmal hinten auf dem Buchumschlag.
Die Schicksale der Frauen wurden nach und nach miteinander verwoben, sodass es bis zur letzten Seite spannend war, als dann alle Fäden zusammenliefen.
Das Cover und die Insektenzeichnungen bei den Kapitelanfängen haben mir richtig gut gefallen, das Cover finde ich sogar schöner als bei den Auslandsausgaben, weil es einfach so frisch und passend aussieht, gleichzeitig nostalgisch wie modern, ein bisschen wie Scrapbooking. Es lässt den Leser oder die Leserin ebenso in die Magie der Natur versinken wie die außergewöhnliche, wundervolle Geschichte selbst.
Die Gewalt gegen Frauen sollte man vor dem Kauf als Triggerwarnung natürlich berücksichtigen, doch geht es um weitaus mehr als das, nämlich, sich von dieser patriachalen Unterdrückung zu befreien und nicht nur der Welt, sondern vor allem sich selbst zu beweisen, dass man keinen Mann braucht, um ein erfülltes Leben zu führen.
Von mir gibt es eine ganz klare Leseempfehlung mit 5+⭐