Sechzig verpasste Jahre
Der Vater von Zora del Buono stirbt bei einem Verkehrsunfall, als sie acht Monate alt ist. Die Trauer der Mutter und ihre Sprachlosigkeit begleiten die übriggebliebene Familie fast ihr ganzes Leben lang. ...
Der Vater von Zora del Buono stirbt bei einem Verkehrsunfall, als sie acht Monate alt ist. Die Trauer der Mutter und ihre Sprachlosigkeit begleiten die übriggebliebene Familie fast ihr ganzes Leben lang. Kurz vor ihrem sechzigsten Geburtstag macht sich die Autorin auf die Suche nach dem Unfallverursacher, von dem ihr nur die Initialen bekannt sind. Darüber und über vieles mehr handelt dieses Buch.
»Seit Jahren denke ich, wenn ich eines dieser Ortsschilder passiere: Ob E. T. wohl noch lebt? Er müsste Mitte achtzig sein. Wie hat er die letzten sechzig Jahre verbracht, mit seiner Schuld? Und dann der Gedanke: Ich muss ihn suchen, ihn aufsuchen. Den Töter meines Vaters.« (Seite 7)
Eine ungewöhnliche Erzählweise hat Zora del Buono gewählt, ihre Erzählung wird unterbrochen von Treffen mit Freunden, Anekdoten aus der Vergangenheit und Listen, die sie erstellt, um sich die wenigen ihr bekannten Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Dabei wird die Sehnsucht nach dem Vater besonders sichtbar, wiederholt bedauert sie dessen viel zu kurzes Leben und den viel zu frühen Tod. Die Demenzerkrankung der Mutter wird ebenfalls thematisiert und berührt mich ungemein. Die Verzweiflung über den Zustand ist fast körperlich spürbar während ich die Zeilen lese, das Verschwinden schreitet voran und die Tochter kann nur ohnmächtig zusehen, wie es abwärts geht.
»Nicht der Tod hat uns getrennt, sondern die Demenz. Ich habe sie längst verloren.« (Seite 183)
Immer wieder verliert sich die Autorin in Nebensächlichkeiten, die überaus interessant, um nicht zu sagen faszinierend sind, auch wenn es sich überwiegend um ein sogenanntes unnützes Wissen handelt, das ich aber aufsauge wie ein Schwamm. Dieses Verhalten passt zu ihrer Vorgehensweise bei der Suche nach dem Unfallverursacher, wo sie immer wieder Dinge (er-) findet , die sie von der eigentlichen Suche abhalten und ablenken sollen; zu groß wahrscheinlich die Angst davor, was sie am Ende erwartet. Ich begleite sie bei ihrer Suche, bin ungeduldig und darauf, was sie herausfindet, gespannt. Das Ergebnis ist verblüffend, die Einzelheiten, die zutage kommen, überraschen auch mich sehr.
«Gibt es Forschung darüber, wie Schuldige umgehen mit ihrer Schuld - ob sie die Lebenswege der Geschädigten verfolgen beispielsweise?« (Seite 115)
Eine berührende Aufarbeitung in Buchform, ein Roman, der mir gefallen hat, so ehrlich und so echt. Ein Mix aus Familiengeschichte, historischem Roman, einem regionalen Krimi und einer Prise Cold Case. Zu Recht für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis 2024 nominiert. Lesenswert!