Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Jula ist eine engagierte junge Journalistin, die in ihren True-Crime-Podcast viel Herzblut steckt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, unschuldig Verurteilten zu helfen und zu erreichen, dass ihr Fall neu aufgerollt wird. Irgendwann stößt Jula auf einen ganz und gar unglaublichen Fall: Matthias Hegel - ein gefeierter, hoch intelligenter forsensischer Phonetiker - soll eine Obdachlose brutal ermordet haben. Zumindest hat er das gestanden. Für Jula gibt es in seinem Fall zu viele Ungereimtheiten, sie ist überzeugt von seiner Unschuld. Sie beginnt fieberhaft, nach der Wahrheit zu suchen - eine Suche, die sie bald in große Gefahr bringt...
Übersicht
Einzelband oder Reihe: erster Teil einer Dilogie; Teil 2, „Aurelia“, wird 2020 erscheinen
Verlag: Droemer Taschenbuch
Seitenzahl: 352
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich weibliche Perspektive (Jula), zwischendurch auch männliche Perspektive (Matthias, Elyas)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Auch TierfreundInnen können dieses Buch problemlos lesen. Julas Katze wird von dieser liebevoll umsorgt und muss nicht – wie so oft in Thrillern – bereits im ersten Viertel das Zeitliche segnen, um die Grausamkeit des Täters zu betonen. Fleisch wird von den Figuren im Buch jedoch schon gegessen. Einmal wird das Ponyreiten erwähnt. Da es Tieren auf Jahrmärkten etc. meist sehr schlecht ergeht, ist jedoch von dieser Freizeitbeschäftigung für Kinder dringend abzuraten.
Warum dieses Buch?
Da ich vor einiger Zeit auf der Uni einen Einführungskurs zum Thema „Forensische Phonetik“ besucht habe und dieses Gebiet sehr faszinierend und interessant finde, war mein Interesse sofort geweckt, als ich den Klappentext gelesen habe. Ich war neugierig, wie der Autor das Thema in seinem Thriller verarbeiten würde. Die erstmalige Zusammenarbeit von Kliesch und Fitzek hat mich ebenfalls neugierig gemacht.
Meine Meinung
Einstieg (♥)
Ich hatte absolut keine Probleme, in die Geschichte zu finden. Der Einstieg ist direkt, das Buch beginnt nämlich mit einer nervenaufreibenden Geiselnahme. Auf diese Weise gelingt es dem Autor schon auf den ersten Seiten, Spannung zu erzeugen.
"Das Sonnenlicht fiel aus einem kinderbuchblauen Himmel auf die Ziegeldächer der Spandauer Neubausiedlung und ließ die Tragödie, die sich im Inneren des Einfamilienhauses abspielte, noch schrecklicher erscheinen." Seite 9
Schreibstil (♥)
Den Schreibstil empfand ich als einfach, flüssig und sehr angenehm lesbar. Für einen Thriller ist die Sprache perfekt: Sie ist sehr anschaulich (das Kopfkino springt sofort an), geht jedoch nicht zu stark ins Detail (was die Geschichte Tempo kosten würde) und kann sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten glänzen. So muss das sein! Man merkt jedem Satz an, dass der Autor Routine hat, da hier wirklich jedes Wort am richtigen Platz ist.
Teilweise hat mich der Schreibstil auch sehr an Fitzeks Bücher erinnert – ich weiß nicht, ob das an der sehr engen Zusammenarbeit der beiden liegt (wie stark Fitzek auf die Schreibweise Einfluss genommen hat, kann ich schlussendlich nicht abschätzen, da ich von Kliesch bisher kein Buch gelesen habe) oder daran, dass Klieschs Schreibstil einfach von Natur aus jenem von Fitzek ähnelt. Eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Wer Fitzeks Thriller mag, wird wahrscheinlich auch mit diesem Buch von Kliesch seine Freude haben.
Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)
„‘Von niemandem‘, dachte Jula, ‚kann man mehr missbraucht werden als von jemandem, dem man vertraut.“ Seite 47
Am Beginn des Buches steht ein charmantes Vorwort von Fitzek, in dem dieser erklärt, wie es überhaupt zur Zusammenarbeit kommen konnte. Interessant finde ich übrigens, dass sich das Hörbuch vom Buch unterscheiden soll – wie stark weiß ich allerdings nicht. Vielleicht hat ja eine/r von euch schon beides gehört / gelesen und kann es mir in die Kommentare schreiben? Sehr interessant finde ich zudem, dass der Autor nicht studiert hat, sondern eine Lehre zum Restaurantfachmann gemacht hat. Ich finde es schön, dass Menschen mit verschiedenen beruflichen Werdegängen und professionellen Hintergründen Geschichten schreiben.
Vincent Kliesch hat seine Sache meiner Meinung nach sehr gut gemacht. Er präsentiert uns in „Auris“ eine wendungsreiche Geschichte, die sich mit einem sehr interessanten Feld der Forensik auseinandersetzt. Manchmal hat der Autor sicherlich das Recht auf künstlerische Freiheit wahrgenommen, die Fakten und die Rechtslage etwas „angepasst“ und die Realität zum Wohle der Spannung / der Wirkung des Thrillers ein bisschen verändert. Das stört mich aber überhaupt nicht, solange das Thema noch plausibel dargestellt wird – und das wird es auf jeden Fall. Ein Thriller muss schließlich weder ein Sachbuch noch eine wissenschaftliche Abhandlung sein. In „Auris“ werden Themen wie Familie, Schuldgefühle, die Suche nach der Wahrheit, kompromisslose Nachforschungen, aber auch Vergewaltigung und Traumata gelungen behandelt. Bei vielen Aspekten schafft es der Autor auch in die Tiefe zu gehen, nur selten fielen mir eine gewisse Oberflächlichkeit oder auch Klischees auf.
Das Ende der Geschichte sehe ich mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge: Einerseits ist es gelungen und macht neugierig – man will sofort weiterlesen. Andererseits wirkt der Schluss überhastet (einige Seiten mehr hätten dem Buch mit Sicherheit gut getan) und so, als hätte man sich im letzten Moment dazu entschlossen, doch noch eine Fortsetzung zu schreiben und als hätte man deshalb dringend noch schnell einen Cliffhanger gebraucht. Ich finde, dass diese Tendenz, offene Enden und Fortsetzungen zu schreiben und die LeserInnen damit zu überraschen, in letzter Zeit exzessiv wird - es passiert ständig, dass ich beim Lesen mit einem Einzelband rechne und dann am Ende feststellen muss, dass ich mich geirrt habe (zuletzt bei "Ein wirklich erstaunliches Ding" von Hank Green). Ich weiß gerne im Vorhinein, worauf ich mich einlasse (!), und mag es nicht gerne, wenn versucht wird, mit dem Ende eines Buches zum Kauf der Fortsetzung zu „zwingen“.
Protagonistin (♥)
„‘Ich weiß, dass Sie es nicht waren!‘
‚WISSEN Sie es, oder WÜNSCHEN Sie es sich nur?‘“ Seite 154
Der größte Teil des Buches wird aus Julas Sicht erzählt. Ich mochte die sympathische Protagonistin und engagierte Podcasterin von der ersten Seite an. Sie ist eine mutige, starke, selbstbewusste Persönlichkeit mit Humor, die sehr schlagfertig und eloquent sein kann - trotz der schlimmen Dinge, die ihr widerfahren sind. Mir gefällt, wie zielstrebig und kompromisslos sie ihre Ziele verfolgt und dass sie sich nicht leicht beeindrucken oder abwimmeln lässt. Meiner Meinung nach ist Jula sehr liebevoll ausgearbeitet, was mir auch in Thrillern sehr wichtig ist. Mir gefällt zudem, dass ihre dunkle Vergangenheit Spuren an ihr hinterlassen hat und dass sie sich den LeserInnen manchmal auch sehr verletzlich präsentiert. Es ist mir aus diesem Grund sehr leicht gefallen, mit Jula mitzufühlen, mitzuleiden und mitzufiebern, wodurch die Geschichte einen gewissen Sog auf mich ausgeübt hat.
Figuren (+)
Auch die anderen Figuren, wie zum Beispiel der forensische Phonetiker Hegel und Julas Bruder Elyas, sind meiner Meinung nach sehr gut gelungen, auch wenn sie nur wenige Auftritte im Buch haben. Auch die Nebenfiguren wirkten auf mich authentisch und „echt“, was mir auch in einem Thriller sehr wichtig ist.
Spannung & Atmosphäre (♥)
„‘Sie rühren an einem Mordfall, der unberührt bleiben sollte.‘“ Seite 131
Die größten Stärken dieses Thrillers sind meiner Meinung nach das hohe Tempo und die oft atemlose Spannung. Geschickt platzierte, sehr effektive Cliffhanger, die allerdings nie zu konstruiert wirken, sondern sich sehr harmonisch in die Geschichte einfügen, die kurzen Kapitel und die unerwarteten Wendungen führen dazu, dass sich dieses Buch sehr schnell lesen lässt und schnell zu einem Pageturner wird, den man kaum zur Seite legen kann. Nur selten gab es kleinere Spannungseinbrüche in der Mitte des Buches, diese haben mich jedoch nicht weiter gestört.
Feministischer Blickwinkel (+/-)
Zuerst zu den positiven Aspekten: Jula ist eine sehr starke, selbstbewusste Protagonistin, die sich nichts sagen lässt und für das, was ihr wichtig ist, kämpft wie eine Löwin. Männer kochen, die Themen Diskriminierung und Sexismus werden zumindest beiläufig gestreift. Das alles hat mir sehr gut gefallen. Auch fand ich es gut, dass die Folgen der Vergewaltigung thematisiert wurden – obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es unbedingt diese Form von Gewalt sein musste, die Jula unbedingt erleben musste. Dieser Weg wird meiner Meinung nach zu leichtfertig eingeschlagen, wenn die Figur, die etwas Schlimmes durchgemacht haben soll, eine Frau ist.
Nicht so gut gefallen haben mir manchmal die stereotypen Beschreibungen verschiedener Nebenfiguren. Ein Beispiel aus dem ersten Kapitel: Die führende Psychologin schaut Matthias „mit großen Augen an“ und „scrollt eilig“, der männliche Einsatzleiter hingegen stemmt „mit festem Blick“ die Hände in die Hüften. Die eine gegenderte Beschimpfung des Bösewichts (Fo---) kann ich verzeihen, problematisch finde ich hingegen, dass ein Jugendlicher Frauen als „geile Bitches“ bezeichnet. Dieser toxische Blick auf Frauen macht mich zugleich traurig und wütend. Absolut nicht okay fand ich die Aussage „Der kämpft wie ein Mädchen“, die Frauen und Mädchen eindeutig abwertet. Weiblichkeit darf in der heutigen Zeit kein Synonym mehr für Schwäche sein!
Mein Fazit
„Auris“ ist ein rundum gelungener Thriller, der sich mit einer sehr interessanten Thematik – der forensischen Phonetik – beschäftigt und mich sehr gut unterhalten hat. Der anschauliche Schreibstil ist angenehm zu lesen und für einen Thriller perfekt geeignet: Er kann sowohl in spannenden als auch in emotionalen Momenten glänzen. Die mutige, schlagfertige, aber auch verletzliche Protagonistin ist liebevoll ausgearbeitet, so dass es mir sehr leicht gefallen ist, mit ihr mitzufühlen. Auch die anderen Figuren sind gut gelungen. Die größten Stärken dieses Thrillers sind aber meiner Meinung nach das hohe Tempo und die oft atemlose Spannung: Geschickt platzierte, effektive Cliffhanger, unerwartete Wendungen und kurze Kapitel machen dieses Buch zu einem Pageturner, den man kaum zur Seite legen kann. Vincent Kliesch geht meist angemessen in die Tiefe, nur selten wird es klischeehaft oder oberflächlich. Das Ende und den unerwarteten Cliffhanger sehe ich mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge: Einerseits macht er neugierig, andererseits wirkt der Schluss aber auch sehr überhastet. Generell finde ich diese Tendenz, offene Enden und Fortsetzungen zu schreiben und die LeserInnen damit zu überraschen, in letzter Zeit exzessiv – eine Entwicklung, die mir nicht wirklich gefällt. Ich weiß gerne im Vorhinein, worauf ich mich einlasse (!), und mag es nicht gerne, wenn versucht wird, mich mit dem Ende eines Buches zum Kauf der Fortsetzung zu „zwingen“. Kurz: „Auris“ ist ein sehr unterhaltsamer, atemlos spannender Pageturner, der nur leider ein überhastetes, ihm unwürdiges Ende erhalten hat.
Den zweiten Band werde ich sehr wahrscheinlich auch lesen.
Bewertung
Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
Figuren: 4-5 Sterne
Spannung & Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Ende / Auflösung: 2 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: +/-
Insgesamt:
❀❀❀❀ Lilien
Dieses Buch bekommt von mir insgesamt vier zufriedene Lilien!