Eine sehr deutsche Familiengeschichte
Franz ist steinalt. Er hat die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als Soldat der Wehrmacht erlebt und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft. In Texas und Utah verbrachte er den Rest des ...
Franz ist steinalt. Er hat die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 als Soldat der Wehrmacht erlebt und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft. In Texas und Utah verbrachte er den Rest des Krieges im Kriegsgefangenenlager. Fast siebzig Jahre später kehrt er mit seinem Enkel Martin, der auch schon fast vierzig Jahre alt ist, hierher zurück, um … um was eigentlich? Die alten Wächter zu treffen? Die Camps noch einmal zu sehen?
Als ich diesen Roman zu lesen entschied, wollte ich mehr über die deutschen POW (Prisoners of War) in den USA erfahren, da mein eigener Großvater dort gewesen ist, in einem Lager in Ohio. Ich besitze noch einige alte Dokumente und war neugierig, was Hannes Köhler in seinem Roman „Ein mögliches Leben“ mir mitzuteilen hat. Es hat letztlich wenig mit dem Kriegsgeschehen zu tun und auch nicht viel mit dem Lagerleben. Was man hierüber erfährt, klingt so sehr nach Recherche und blutarm wie ein Einser-Schulaufsatz in Geschichte. Aber Köhler geht es nicht um die historische Darstellung des Lageralltags (auch wenn er hier brav die Details referiert), wie es auch Großvater Franz nicht um den Besuch eines bestimmten Ortes geht.
Im Kern geht es darum, wie die Generation der jungen Deutschen, die im Nationalsozialismus geboren, von diesem indoktriniert und in den Krieg gehetzt wurde, mit dem Kriegsende, der Niederlage und dem Verlust der eigenen Identität als vollständig vom Klang des Deutschlandliedes („Deutschland, Deutschland über alles“) geprägte Nazis umgeht. Köhler zeigt zunächst im groben Holzschnitt, später weitaus gekonnter die vielschichtigen Mentalitäten, die in den Kriegsgefangenenlagern zusammenkamen: Hundertfünfzigprozentige, Judenhasser, Mitläufer, verkappte Rote, verhinderte Widerstandskämpfer, Duckmäuser, Wendehälse und Besserwisser. Zwischen den deutschen Soldaten treten massive Spannungen auf, die sich am aberwitzigen Glauben an den Endsieg und die Wunderwaffe entzünden. Mittendrin befindet sich der blutjunge Franz, der in seiner Lagerzeit reift und seine Gesinnung schärft, indem er seinen Freund und geistigen Mentor Paul Linde kennen lernt. Dieser ist „Volksdeutscher“, aber in den USA geboren, hat den ganzen Krieg ab 1939 mitgemacht und kennt auch die Gräuel, die die Deutschen an der Ostfront verübt haben. In Pauls Freundschaft wächst Franz‘ Persönlichkeit und seine Liebe zum demokratischen Amerika. Pauls Schicksal im Widerstreit mit den Nazis unter den „alten Kameraden“ wird zum Wendepunkt in Franz‘ Leben und ist der eigentliche Grund für die Reise des Greises mit dem Enkel.
In ihr löst Köhler auch die Spannungen aus Franz‘ Familiengeschichte vom Nazivater bis zur Urenkelin auf: fünf Generationen, die alle von Deutschlands dunkelsten Jahren geprägt sind. Köhler gelingt es, in diesem Teil des Romans in seinen Figuren exemplarisch die Mentalitäten der Generationen im Angesicht der individuellen Schuld und Verantwortung herauszuarbeiten. Franz‘ schicksalhafte amerikanischen Jahre sind der Schlüssel zur Auflösung der enormen Komplexe, die sich seit dem Krieg innerhalb der Familie aufgeworfen haben, und sie finden sich im Titel wieder: „Ein mögliches Leben“ meint nicht nur die konkreten Verzweigungen, die Franz 1945 genommen hat, als er sich für dieses und kein mögliches anderes Leben entschieden hat, sondern es meint auch die Möglichkeit, dass dieses Leben des Deutschen Franz Schneider möglich und denkbar für eine ganze Generation ist.
„Ein mögliches Leben“ gewährt beim Lesen keinen leichten Einstieg und nimmt erst später Fahrt auf. Die subtile Familiengeschichte aber ist unbedingt lesenswert.