Düsteres Drama in der Zirkuswelt
Man schreibt das Jahr 1866. In einem kleinen südenglischen Dorf steht ein aufregendes Ereignis bevor: Jasper Jupiters Zirkus der Wunder soll in den Ort kommen und eine Vorstellung geben. In besagtem Dorf ...
Man schreibt das Jahr 1866. In einem kleinen südenglischen Dorf steht ein aufregendes Ereignis bevor: Jasper Jupiters Zirkus der Wunder soll in den Ort kommen und eine Vorstellung geben. In besagtem Dorf wohnt auch Nell mit ihrem Vater und ihrem Bruder Charles. Nell wäre eine ganz normale junge Frau, wären da nicht ihre dunklen, kreisrunden Male, die den ganzen Körper bedecken und sie zu einer Außenseiterin machen. Nells Familie ist nicht sonderlich reich, u.a. halten sie sich mit der Aufzucht und dem Verkauf von Blumen über Wasser. Nells Bruder träumt von einem Leben in Amerika und Nell kann sich auch etwas Besseres vorstellen, als ihre tägliche Arbeit auf dem Feld. Dazu kommt die ständige Verachtung, welche ihr von vielen Dorfbewohnern ob ihres Aussehens ständig entgegenschlägt. Trotz allem ist sie mehr als geschockt, als sie von ihrem eigenen Vater als "zukünftige Sensation" an Jasper und somit an den Zirkus verkauft wird. Die Zurschaustellung "seltsamer" Menschen steht gerade hoch im Kurs und keine Geringere als Queen Victoria bekundet ihre Sympathie für diesen obskuren Trend.
Mit der Zeit gewöhnt sich Nell jedoch an das Zirkusdasein und dabei hilft ihr auch die Freundschaft zu anderen Darstellern und Artisten (z.B.Stella, Brunette oder Pearl) sowie die Zuneigung für Toby, den Bruder des Zirkuseigners Jasper. Auch Toby, von Haus aus Fotograf, hat Interesse an der begabten, durchaus attraktiven Nell. Dennoch fürchtet er zugleich die Interventionen seines herrschsüchtigen Bruders Jasper, der über alle Vorgänge in "seinem" Zirkus die Kontrolle behalten möchte. Dazu taucht auch noch das ungeklärte Schicksal von Jaspers bestem Freund Dash auf, mit dem beide Brüder im Krimkrieg gekämpft haben. Wird sich der Todesfall aufklären lassen und wird es für Toby und Nell schließlich ein "Happy End" geben?
"Zirkus der Wunder" (original "Circus of Wonders") ist das zweite Buch, das von Elizabeth Macneal nach ihrem sehr erfolgreichen Vorgänger "The Doll Factory" veröffentlicht wurde. Die Autorin, die Englische Literatur am Somerville College in Oxford studiert hat und auch die Töpferscheibe zu bedienen weiß, versenkt sich anscheinend mit Vorliebe in Szenarien ihres Heimatlandes Ende des 19.Jahrhunderts. Mit sehr viel Fantasie und einer originellen Sprache lässt sie diese vergangene (Zirkus-)Epoche in der Vorstellung der Leser für eine Weile wieder auferstehen. Viele der erwähnten Zirkusimpresarios oder "Kuriositätendarsteller" hat es wirklich gegeben und die erfundenen Gestalten fügen sich gut in die beeindruckenden bunten Bilder ein, die Elizabeth Macneal entstehen lässt. Immer wieder streut sie auch Tier- und Naturvergleiche ein, was die Geschichte für mich noch plastischer in dieser (vergangenen) Zeit macht. Auch das Cover lädt mit seiner liebevollen Gestaltung (ein Zirkuszelt in grün-weiß-gold mit der schwebenden Nell inmitten von Blumenranken) zum Schmökern ein.
Die Beziehungen zwischen den Personen (Nell-Toby, Toby-Jasper, Jasper-Nell) bleiben zum Teil schwierig zu fassen oder nachzuvollziehen. Es ist, als ob gerade Nell in einer schön-schillernden Seifenblase gefangen wäre: Man kann sie beobachten, aber von ihr dringt nicht so viel nach außen. Die Figuren an sich in dem Buch verfügen eher über wenig Introspektion. Demnach muss man sie über Äußerlichkeiten und ihre Handlungen definieren. Das führt dazu, dass die Handlungsvorgänge manchmal sprunghaft und abrupt wirken und sich dem Leser vielleicht nicht immer erschließen.
Die Autorin konnte mich überraschen, da sie mit Handlung und Figuren oft den unkonventionellen Weg gegangen ist (auch typisch für die Briten an sich )Das hat mir sehr gut gefallen, dass in dem Buch nicht alles so berechenbar war. In einem Interview hat Elizabeth Macneal gesagt, dass sie das Leben und die Schwierigkeiten starker Frauen in der Geschichte untersuchen und darstellen möchte. Ich finde, dazu waren in ihrem Buch gute Ansätze zu finden und ich spreche auch gerne eine Leseempfehlung aus. Ich denke aber auch, dass die Autorin das Potential hat, in ihrem nächsten Buch, das es bestimmt geben wird, "noch eine Schippe draufzulegen".