Potential verpufft.
"Cell 7" habe ich über eine Aktion der "Lesejury" bekommen und selten hat mich eine Leserunde so beeindruckt. Gedanken flossen, Energien kochten über und ich konnte plötzlich schwer unterscheiden, was ...
"Cell 7" habe ich über eine Aktion der "Lesejury" bekommen und selten hat mich eine Leserunde so beeindruckt. Gedanken flossen, Energien kochten über und ich konnte plötzlich schwer unterscheiden, was meine Meinung war und welche die Meinung der Gruppe. Klar war aber: Die Themen machen betroffen. Wenn in einem manipulierbaren (?) Televoting über Leben oder Tod abgestimmt wird, macht das Angst.
Klar war mir am Ende auch: Ich weiß nicht, ob ich weiterlese würde.
Worum geht es?
Martha, ein Teenager aus den Kratzern, hat den Wohltäter Jackson Paige umgebracht und sitzt im Gefängnis. Binnen der nächsten sieben Tage entscheiden die zahlenden Zuschauer über Leben und Tod. Jeden Tag wird Martha in eine kleinere Zelle verlegt und sie bekommt Besuch von ihrer psychologischen Betreuerin Eve. Eve, die eine besondere Beziehung zum System hat, vermutet, dass Martha unschuldig ist und forscht nach. Parallel sieht der Leser "Death is Justice", eine Fernsehshow, die von charismatischen Moderatoren moderiert wird und in der die Fälle ausgebreitet werden. Ziel ist es, die Zuschauer zum Wählen zu animieren.
"Cell 7" ist der erste Band einer Trilogie.
Die Figuren
Martha Honeydew: Wenn "Cell 7" ein Musikstück wäre, dann wäre Martha das Grundthema. Mit ihr beginnt und endet die Geschichte. Und sie stellt das Gegengewicht zum kalten, ideologischen "Death is Justice" dar. Martha ist anfangs abgeklärt, wird sich später aber bewusst, in welcher Gefahr sie sich befindet. Ich wusste bis zum Schluss nicht, ob sie davon ausgeht, dass sie freikommt oder dass sie stirbt, um etwas zu bewegen. Ich fand ihre Entwicklung besonders in der zweiten Hälfte gut, weil ich merkte, wie wichtig ihr ihre Familie ist und dass sie an ihrer Aufgabe zweifelt. Allerdings wirkt Martha nicht so nahbar, was vor allem am beobachtenden Schreibstil iiegt. Letztendlich ist sie ein Instrument, um dem Thema ein Gesicht zu geben.
Eve Stanton ist ein guter Puffer. Sie ist ruhig und klug, aber ein bisschen schüchtern. Das hat mir sehr gefallen. Ich denke, es fällt Eve schwer, die Intiative zu ergreifen. Durch ihre Arbeit lebt sie in einer sicheren Blase, in der sie das System weniger unterstützt, sondern die Gefangenen im System. Ihr Sohn Max ist eine große Unterstützung für sie. Gemeinsam mit Ex-Richter Cicero versucht sie die Menschen davon zu überzeugen, dass das System schlecht ist.
Kristina ist die opportunistische Moderatorin von "Death is Justice" und die Verkörperung des Systems für den Leser. Kristina wirkte auf mich nicht, als hätte sie das System umfassend hinterfragt, aber sie ist davon überzeugt. Das merkt man u.a. daran, dass Cicero sie mit seinen Argumenten in die Enge treiben kann, aber lange Zeit niemand die Livesendung unterbricht. Stellenweise wirkte sie wie eine Marionette. Sie erinnerte mich an die Moderatoren aus "Die Tribute von Panem", war aber weniger knallig. Die Obrigkeit tritt im Buch fast nicht in Erscheinung, nur der Sendechef wird interviewt, was leider untergeht. Daher löst ihre manipulierende Art Wut aus. Ich fand das interessant, aber weniger spannend. Kristina setzt Techniken ein, die ich aus dem heutigen Fernsehen gut kenne und die heute manchmal deutlicher eingesetzt werden.
Issac ist ein Junge, der ebenfalls ein Teenager ist und gut mit Martha wirkt. Seine Herkunft und Funktion bleibt lange im Dunkeln.
Jackson Paige und das "Volk" werden nur schwammig geschildert. Obwohl der Tod Paiges die Handlung auslöst, erfährt man nur wenig. Er war ein Mensch, der sich aus den Kratzern nach oben gearbeitet hat und in der Öffentlichkeit als großer, großer Wohltäter bekannt ist. Scheinbar gab es auch eine andere Seite. Jackson wirkte auf mich wie ein Phantom. Ähnlich wie die Menschen, die in der Fernsehsendung anrufen. Es wird nicht klar, ob sie aus Sensationslust anrufen, oder weil sie wirklich glauben, dass jemand für den Tod einer berühmten Persönlichkeit bestraft werden muss. Aber vielleicht soll das so sein - vielleicht ist es nicht wichtig, was das Volk will, sondern es unterwirft sich dem System. Und vielleicht wird die Rolle Paiges im zweiten Band aufgeklärt.
Tod ist Gerechtigkeit?
Das Prinzip wurde eingeführt, weil es trotz ausführlicher Beweisaufnahme zu Fehlurteilen kam. Mit der Sendung kann man die Menschen beruhigen, denn es wurde "demonkratisch" abgestimmt. Da jeder Anruf Geld kostet, sind die Bewohner der verarmter Kratzer benachteiligt, während die Menschen in den reichen Stadtteilen die Wahl manipulieren können.
Das Buch wirft interessante Fragen auf: Wie kann man Fehlurteile verhindern? Was ist Gerechtigkeit? Kann man das objektiv beurteilen oder ist das subjektiv? Wo beginnt und endet Notwehr? Sollte Gleiches mit Gleichem vergolten werden?
Der Text zeigt spannende Beispiele, geht aber (noch) nicht tief genug. Ich vermute, dass das in den anderen Büchern ausgebreitet wird, aber mich hat das frustiert.
Der Schreibstil
Der Stil im Buch ist kühl. Das liegt einerseits daran, dass Marthas Sicht personal ist und relativ beobachtend. Es gibt nur wenige Stellen, in denen die Autorin mit Motiven arbeitet (der Baum!), ansonsten wirkt der Stil karg. Ich habe mich nach eniger Zeit daran gewöhnt. Außerdem werden Gedankenströme Marthas eingeflochten.
Verstärkt wird das durch Auszüge aus "Death is Justice", die in Drehbuchform geschildert werden. (Schon Goethe, Schiller und Lessing wussten: Man sieht sich immer zweimal im Leben...). Die Autorin "beschenkt" uns mit Bewegungsabläufen, Kursivschriften und Logoanimationen. Vielleicht zeigt das, dass auch die Show nur ein durchgeplantes Schauspiel ist, das zur Beeinflussung des Publikums dient. Da ich keine Beschreibungen mag, nervte mich das. Und es hat von den Dialogen abgelenkt.
Der Text ist gut und flüssig lesbar, wirkt aber trocken. Vielleicht wollte die Autorin die kühlen Zellenwände und die Stimmung unterstreichen, dass der Einzelne im System einsam und abgetrennt von der "Masse" ist. Vielleicht wollte sie die dystopische Atmosphäre verstärken.
Spannung
Die Frage "Wird Martha überleben?" treibt das Buch voran und das war gut. Aber die Handlung wird durch den Schreibstil abgebremst und es fiel mir schwer, zwischen der Sendung und der abenteuerlichen Suche nach der Wahrheit zu wechseln. Emotional nahm mich das Buch selten mit.
Ein Wort zum Cover
Ich finde das Titelbild außergewöhnlich, weil das Gesicht den gesamten Raum einnimmt. Die Figur wirkt computeranimiert und sie blickt den Leser an. Das Cover wirkt nur wenig verspielt und nicht dystopisch. Martha als Hauptfigur steht im Mittelpunkt. Das Cover ist einzigartig, die Geschichte ist es nicht. Daher finde ich es nicht ganz stimmig.
Fazit
Für mich war das Buch eine Enttäuschung. Die Idee ist toll, aber die ständige Medienkritik war nicht gut. Ich fand den Text stellenweise schön, aber die Helden zu naiv und vieles zu einfach. Ich habe einige dystopische Filme gesehen und verglichen damit hat das Buch nichts, was ich nicht bereits irgendwo gesehen hätte. Wahrscheinlich wäre "Marthas Widerstand" als Film sehr unterhaltsam!
Andererseits: Das Buch ist ab 14 Jahren freigegeben und die jugendlichen Protagonisten wirken als Identifikationsfigur gut. Manchmal ist man als Teenager (und als Erwachsener...) naiv. Und vielleicht muss man jugendliche Leser nicht mit besonders grausamen Stellen ärgern.
Trotzdem: Als Buch fand ich es nicht wirklich schlecht, aber nicht gut.
PS: "Auge um Auge Productions" - Wer hat diesen Semi-Anglizismus zu verantworten?!