Entlarvend
Wow, was für ein Pageturner du warst! Ein Thriller, dessen Spannungskurve uns direkt durch die Höhen und Tiefen aktueller Debatten um kulturelle Aneignung führt. Dürfte ich nur ein beschreibendes Adjektiv ...
Wow, was für ein Pageturner du warst! Ein Thriller, dessen Spannungskurve uns direkt durch die Höhen und Tiefen aktueller Debatten um kulturelle Aneignung führt. Dürfte ich nur ein beschreibendes Adjektiv für dich finden, es wäre wohl >entlarvend<. Die Entlarvung psychologisch-individueller Prozesse, aber eben auch die Entlarvung der Verlagswelt – einer wie hier porträtierten, absolut fiesen Branche. Aber beginnen wir ganz am Anfang.
Wir folgen der Ich-Erzählerin und bisher erfolglosen Schriftstellerin June Hayward, die den Tod ihrer Nicht-ganz-so-engen-Freundin und Bestseller-Autorin Athena Liu miterlebt, während ihr nichts Besseres einfällt, als noch schnell deren Manuskript eines potenziell neuen Meisterwerks einzusäckeln. Es aufzuarbeiten und umzugestalten. Es zu pitchen. Es unter ihrem Namen zu veröffentlichen und den Fame zu kassieren. Dass June damit ein Monster entfesselt, dass ihr nicht nur die so lang ersehnte Aufmerksamkeit, sondern auch wahnsinnigen Druck und Hate beschert, liegt auf der Hand.
Die Stärke deiner Entfaltung liegt für mich in den vielen kleinen Grenzüberschreitungen, die wir Lesenden hier erleben. Den kleine Wunden, die sich in Summe zu einem fetten, unaufhaltsamen Schneeball zusammenrollen. Und mit zunehmendem Tempo immer mehr schmerzen. Junes Erzählung ist eine riesengroße Rechtfertigungsgeschichte. June handelt dumm, dann wieder clever. Sie handelt aus Einsamkeit heraus. Sie ist irgendwie lustig. Sie ist ganz schlimm und sie tut mir leid und ich kann ich nicht fassen, welche unmoralischen Wege sie einschlägt. Und genau das ist das Fabelhafte an dir: Rebecca F. Kuang schafft diese satirischen Situationen, zerrt uns in alle Ecken des Emotionsregisters und zeigt, dass die drängenden Fragen eben gar nicht so einfach zu beantworten sind:
Wer trägt die Verantwortung für kulturelle Aneignung und Unterdrückung?
Wo beginnt originäre Autor*innenschaft?
Wer darf über welche Themen schreiben?
Und wessen Geschichte lese ich hier eigentlich wirklich?