Ein wunderbar multisensorisches Erlebnis
Rezension zu "Alte Sorten" von Ewald Arenz
Achtung! Spoilerwarnung
Zusammenfassung:
Eine schicksalhafte Begegnung zweier auf den ersten Blick völlig verschiedener Frauen in einem Weinberg ist der ...
Rezension zu "Alte Sorten" von Ewald Arenz
Achtung! Spoilerwarnung
Zusammenfassung:
Eine schicksalhafte Begegnung zweier auf den ersten Blick völlig verschiedener Frauen in einem Weinberg ist der Beginn dieses außerordentlichen Buches. Sally, 17, voller Frust und unbändiger Wut in sich, streift allein durch die Lande, hauptsache weg von der Stadt, von der Klinik, von der ständigen geheuchelten Fürsorge. Liss, um die 50, blickt von ihrer täglichen Hofarbeit zurück auf eine schwere Vergangenheit.
An diesem Herbsttag kehren die beiden zusammen zurück auf den Hof, am Rande des altertümlichen, kleinen Dorfes. Und so beginnt, ganz langsam und leise, eine wunderbare, unendlich starke Freundschaft zu wachsen.
Meine Meinung:
"Alte Sorten" war mein erstes Buch von Ewald Arenz und außerdem mal etwas anderes. In meiner Freizeit greife ich eher selten zu solchen, "richtigen" Romanen. Und eins kann ich schonmal sagen: das werde ich in Zukunft öfter machen!
Von außen macht das Buch bereits mächtig was her. Der Dumont Verlag hat hier keine Mühen gescheut und das Exemplar mit hochwertigem Leineneinband, festem Material und detailverliebter Gestaltung zu einem echten Hingucker gemacht! Der Titel passt perfekt zum Inhalt, im ersten Moment sagt er nicht viel aus, doch es steckt sehr viel dahinter und hat den selben Geschmack wie das ganze Buch. Das Cover zeigt einen beigen, schlichten Hintergrund mit Titel und Autor und ein Stück eines Birnenzweigs mit zwei besonders aussehenden Birnen. Als Detail ist eine Biene daneben fliegend zu sehen. Diese beiden Motive lassen sich fühlen, sie heben sich leicht vom Buchdeckel ab und fühlen sich angenehm an. Zusätzlich enthalten ist ein integriertes Lesezeichen in einem passenden Gelb.
Das Cover repräsentiert genau den großartigen Schreibstil von Ewald Arenz wider. Dieses minimalistische, klare, ländliche, einfache aber gleichzeitig aussagekräftige mit so einer großen Bedeutung , dieses echte. Es erinnert mich an ein Stillleben, wo man das Gefühl hat, die Gegenstände anfassen zu können. Denn genau das schafft der Autor: jeden Geruch riechen, Geschmack schmecken, die Geräusche hören, die Dinge vor sich sehen zu können, dafür sorgt Ewald Arenz mit diesem einzigartigen, klaren, bildgewaltigen Schreibstil.
Diese aufwühlende, emotionale Geschichte reißt den Leser mit, er erlebt die Entwicklung dieser außergewöhnlichen Freundschaft, wie die beiden langsam eine funktionierende, effektive Dynamik aufbauen, sich vorsichtig aneinander herantasten, sich mehr und mehr öffnen, sich gegenseitig Halt geben, aufeinander wirken. Ganz besonders und leise wurde dies vermittelt.
Die beiden Protagonistinnen sind sich sehr ähnlich, dies merkt man während des Lesens ganz deutlich. Es wird zwischen den beiden Perspektiven hin- und hergewechselt, wobei man klar einen Unterschied in der Sicht auf die Dinge feststellt. Und obwohl ein Er-/Sie-Erzähler spricht, fühlt man sich Liss und Sally nah. Sally erinnert an die junge Liss, die auch zu kämpfen hatte und doch nur raus wollte, die Welt sehen wollte, die Gewalt vergessen wollte.
Durch perfekt ausgewählte Rückblicke in verschiedene Situationen der Vergangenheit der beiden, setzt sich langsam das Gesamtbild der jeweiligen vergangenen Geschichte der beiden zusammen.
Im Laufe dieses Werkes erkennt man einen klare Wendung in der Komposition: anfangs ist es Liss, die Sally half; sie gab ihr Halt, Stärke und stützte sie in ihrem aufwühlenden Inneren. Sie gewährte ihr einen Einblick in eine neue Welt, die sie angekommen fühlen ließ, und zur Ruhe verhalf. Dann, kurz nach der Hälfte, wird Sally zum Retter von Liss. Sie rettet primär natürlich ihr Leben, klar, doch nicht nur das. Es geht um die Zeit danach, wo sie Liss half, wieder auf die Beine zu kommen, weiterzuleben mit ihrer Last, wieder etwas zu fühlen. Sally ist es, die sie weiterleben lässt, und sie tut das, für sie.
Das zeigt nochmal deutlich die Stärke dieser Freundschaft, einer Freundschaft von zwei allein kaputten Frauen, die zusammen ein ganzes Stück weniger kaputt sind. Ihre Wunden sind zu tief, um je ganz zu verheilen, doch sie verbinden ihre Wunden gegenseitig, sodass der Schmerz weniger wird, in den Hintergrund rückt und nur noch dumpf widerhallt.
Sie sind wie zwei Puzzelstücke, zwei Dinge, die genau zueinander passen, einander ergänzen und nur zusammen gut funktionieren. Etwas ganz Besonderes.
Die Charaktere und alles andere ist so unglaublich echt und realitätsnah geschrieben, man kann jede noch so verquere Handlung der beiden nachvollziehen. Am Anfang ist man ein wenig misstrauisch, man weiß nicht genau, wie die Protagonistinnen so handeln, doch mit jeder Seite erfährt man mehr über sie und wird berührt von diesen unfassbar gut transportierten Emotionen.
Die alltägliche, harte Arbeit auf dem Hof wurde überragend gut porträtiert, hier hat der Autor ganze physische Recherche geleistet. Es ist ein durchgehendes, wunderschönes Element, wobei fast jeder sogar noch etwas dazu lernt. Es wird nichts romantisiert oder gar verweichlicht, alles kommt sehr authentisch, echt und real rüber.
Besonders gut gefallen haben mir die sinnspielenden Metaphern und wie echt alles transportiert wurde. Mit allen Sinnen liest man diese Geschichte und kann sich durch diesen grandiosen Schreibstil perfekt hineinfühlen.
Fazit:
Alles in allem schafft dieser Autor eine einzigartige, wunderbare Atmosphäre in dieser Geschichte. Man kann das Buch genießen, sich voll darauf einlassen, jede Seite und jedes Detail wunderbar erfassen. Die Charaktere sind unfassbar echt, die Handlung sehr interessant und spannend und der Schreibstil ein einziger Genuss!
Eine große Leseempfehlung, dieses Buch wird mich auch noch länger begleiten!
9,5/10 Punkten